Das Wunderding aus Wuppertal
Später Freitagnachmittag im November. Ich schlendere über den Dorfplatz, es ist Markt – und nichts los. Außer bei der netten Dame, die neben selbst gemachten Konfitüren und Pestos auch den Thermomix vertreibt. „Vom vergangenen Oktober bis diesen November habe ich 22 Geräte verkauft“, sagt sie, „an einem Tag habe ich drei Stück hier auf dem Markt verkauft, weil die Tomatensuppe, die ich zum Probieren anbiete, den Kundinnen so gut geschmeckt hat.“ Deutschland befindet sich im Thermomix-Fieber. Aber 1.100 Euro ausgeben, weil eine Suppe gut geschmeckt hat? Das ist doch verrückt.
Drehe ich mich 360 Grad in meinem Bekanntenkreis, hat nahezu jede Familie eines dieser Wunderdinger aus Wuppertal. Es schneidet, rührt, häckselt, dämpft, mahlt, knetet, gart, wiegt und kocht. Ein Leben ohne das Multifunktions-Küchengerät ist für manche inzwischen kaum vorstellbar. „Ich nutze den Thermomix an mindestens fünf Tagen in der Woche“, sagt eine Freundin. Ich hoffe inständig für sie und alle anderen Thermomix-Jünger, dass die Geräte niemals kaputt gehen. Das wäre für viele der absolute GAU.
Am laufenden Band
Seit seiner Markteinführung im September 2014 übertrifft der Thermomix von Vorwerk alle Erwartungen. Nach genau 298 Tagen wurde das millionste Gerät der fünften Generation mit dem Namen „TM5“ ausgeliefert. Die vier Produktionsstraßen in Deutschland und Frankreich fertigen seit ihrer Inbetriebnahme am laufenden Band – rund um die Uhr an sieben Tagen die Woche, in drei Schichten. Die Nachfrage ist seitdem ungebrochen. Deshalb soll im Januar eine fünfte Linie in Betrieb genommen werden. „Die Geschwindigkeit und das enorme Wachstum sind fast noch verblüffender als die Zahl „eine Million“. Die enorm große Nachfrage bestätigt uns, dass unsere Visionen genau richtig waren“, erklärt Dr. Thomas Rodemann, CEO Vorwerk Elektrowerke. Denn das Ziel „eine Million“ hatte sich das Unternehmen mit Sitz in Wuppertal erst für 2016 gesteckt.
Wurzeln in den 60ern
Dass das Wundergerät so plötzlich kam, stimmt natürlich nicht. Vorwerk ist stolz auf eine Thermomix-Geschichte, die bis in die 1960er-Jahre zurückreicht. Zunächst konnte das Multifunktionsgerät häckseln und rühren. Ab den 70ern dann auch Speisen erwärmen. Der „TM5“ stößt jetzt aber in neue Dimensionen vor. Es ist das Gerät der Stunde. Selbst meine Mutter, die ein Teenager war als die erste Generation Marktreife erlangte, kam erst vor wenigen Wochen mit dem Phänomen in Kontakt. Sie wurde – wie wohl inzwischen fast jede Frau im Bundesgebiet – zu einer Thermomix-Party eingeladen. Vorwerk selbst nennt dies Erlebniskochen.
Die Seele des Vertriebs
Und das funktioniert folgendermaßen: Eine Repräsentantin, so heißen bei Vorwerk jene Menschen, die den Thermomix bei privaten Veranstaltungen vorführen und auf privater Provisionsbasis verkaufen, kocht ein Menü und bietet und dabei das Gerät feil. Weltweit arbeiten mehr als 600.000 zumeist weibliche Verkäufer im Direktvertrieb. In Deutschland sind es 13.000. „Ich bin stolz auf unsere Repräsentantinnen, weil sie das Produkt so schnell ins Herz geschlossen haben. Sie sind die Seele unseres Vertriebs“, erklärt Dirk Reznik, CEO Vorwerk Thermomix.
Der Wuppertaler Konzern schwört seit Jahrzehnten auf diesen Vertriebsweg – man denke auch an den Staubsauger Kobold. Der Thermomix wird in gemütlicher Runde, bei Essen und Trinken, vorgeführt. Und seine Vorzüge erklärt. Das ist ein zielgerichteter Vertrieb. Berieselnde Radiowerbung oder eindringliche TV-Spots gibt es nicht. Die sind eh zu teuer und erreichen eben nicht potenzielle Kunden. Es kommt nur derjenige mit dem „TM5“ in Berührung, der es auch tatsächlich möchte.
Ein weiterer verkaufsfördernder Aspekt des Erlebniskochens: Thermomix-Partys finden meist im Bekanntenkreis statt. Deshalb fällt es vielleicht leichter „Ja“ zu sagen – oder schwerer „Nein“. Schließlich kann man auch in Raten zahlen, alles kein Problem. Der Gastgeber selbst ist in der Regel bereits stolzer Besitzer eines der Geräte und kann die Kaufsumme mindern, indem bei der eigenen Party weitere verkauft werden.
Die Gründe des Erfolgs
Der Thermomix ist für Vorwerk ein Riesenerfolg. Und der hat mehrere Faktoren. Einfach gesagt, ist das Gerät zu genau der richtigen Zeit aufgetaucht. Kochen liegt nach wie vor im Trend. Eine Küche ist eines der begehrtesten Statussymbole und die hochwertige Küchenausstattung – zu der der Thermomix zweifelsohne zugeordnet werden kann – gehört dazu. Hinzu kommt, dass eine große Gruppe Menschen immer misstrauischer gegenüber industriell hergestellten Fertigprodukten geworden ist. Es soll frisch gekocht werden. Allerdings ist die Zeit, die dafür im Alltag bleibt, weniger geworden. Keine Frage, der „TM5“ entlastet, wenn beispielsweise ein Rotkohl in wenigen Sekunden gehäckselt ist oder ein Hefeteig gerührt. Veganer, Allergiker, junge Mütter, die den Brei für den Nachwuchs selber machen wollen – sie alle profitieren vom Wunderding aus Wuppertal. Es verkörpert den aktuellen Lifestyle in vielen Subkulturen.
Mehrere Nachahmer
Die Konkurrenz schläft natürlich nicht. Der Thermomix hat inzwischen zahlreiche Nachahmer gefunden. Beispielsweise hat KitchenAid den „Artisan Cook Processor“ entwickelt, Kenwood hat die Kompakt-Küchenmaschine „kCook“ auf den Markt gebracht, und den „Silvercrest Monsieur Cuisine“ gibt es für 199 Euro bei Lidl. Die „Studio“ Küchenmaschine mit Kochfunktion ist bei Aldi für den gleichen Preis zu haben.
Die Verlierer des Erfolgs
Wo es Gewinner gibt, gibt es aber auch Verlierer. Zum Beispiel die Mikrowelle, deren Verbreitung zwar ohnehin eine natürliche Sättigungsgrenze erreicht hat, die aber auch aus politischen Gründen an Publikumsgunst einbüßt. Gerade bei den typischen Thermofix-Kundinnen, die bewusst lieber frisch kochen anstatt zu Dosen- und sonstigen Fertiggerichten aus der Tiefkühltruhe greifen. Für die klassische Einbauküchenausstattung mit Herd oder Backofen scheint der Thermomix aber keine Gefahr zu sein. Denn Braten oder Backen kann das Gerät nicht. Zumindest bisher nicht.
Astrid Plaßhenrich