30.05.2016

Wer nicht in Mailand war, hat etwas verpasst. Das sagen gern die, die da waren. Tatsächlich bietet die EuroCucina viel Stoff zum Küchegucken. Das inspiriert. Auch wenn nicht alles ernst genommen werden sollte, was zu sehen ist.

Dirk Biermann, Chefredakteur

Es gibt Küchen, die müssten verboten werden. Es sollte jedem klar sein, dass ein unter die Zimmerdecke geschraubter Oberschrank einen gewissen Überraschungseffekt birgt, außerhalb einer Messehalle aber seine praktischen Tücken hat. Dafür braucht es kein Studium der „Ergonomie“. Und wandhohe Regale als meterlange Raumteiler. Die sehen schick aus, doch man mag sich gar nicht vorstellen, wie das schmiert nach einigen Wochen Küchenarbeit. Schließlich ist für die Trendsetter der Einrichtungsbranche wieder einmal Glas der große Renner, wenn bei der Wahl der Einlegeböden die Materialfrage gestellt wird.
Oder ist das jetzt zu spießig gedacht? Vielleich eröffnet ein zäher Staub-Fett-Film von unten betrachtet ganz neue Perspektiven auf den Lebensraum Küche? Blendfrei ausgeleuchtet per LED. Und irgendeine Strickleiter wird ja wohl zu kriegen sein, um da oben mal klar Schiff zu machen. Auch wenn das vermutlich gar nicht vorgesehen ist vom Designer.

Über die Mailänder EuroCucina lässt sich trefflich diskutieren. Und mit Blick auf manche Deko-Idee ironisch werden dazu. Ganz gewiss sind die Fan-Lager gespalten: Für die einen ist die EuroCucina die wichtigste Küchenmesse der Welt, für die anderen ein gut besuchter, aber überbewerteter Szenetreff. Die Wahrheit entzieht sich wieder einmal der klaren Stellungnahme, und es kommt wohl drauf an, was man vom Trip über die Alpen genau erwartet. Möchte man möglichst viele neue Kontakte knüpfen aus möglichst allen Teilen der Welt? Oder aus Image-Gründen einfach nur dabei sein? Möchte man sich von den Scheuklappen des Alltags befreien und einen offenen Blick auf merkwürdige Ideen werfen? Oder findet man Italien im Frühjahr einfach nur toll und könnte wochenlang durch die Showrooms der Innenstadt schlendern und sich von Schnittchen und Perlwein ernähren?

Für glühende EuroCucina-Anhänger steht allemal fest: In Mailand werden die Trends gemacht. Fragt sich in diesem Jahr bloß: Womit genau sollten wir uns in Vorbereitung auf die Küchenmeile im September vorrangig beschäftigen? Dass die Küche immer mehr mit dem Wohnen anbandelt und sich immer individueller in Szene setzen lässt, haben wir hinreichend gelernt. Dass viele verschiedene Materialien immer kreativer gemixt werden, auch. Darüber hinaus wird es kompliziert. Denn beim kollektiven Gänsemarsch durch die finster verhüllten Mailänder Messehallen hatten es die Fachbesucher diesmal mit zwei Präsentationsformaten zu tun, die unterschiedlicher kaum sein können: mit der Küche als Werkstatt und als Wohnzimmer.

Die „versteckte Küche“ ist eine dieser beiden Stilrichtungen. Alles, was nach Technik aussieht, wird hinter großformatigen Türen und sanft dahingleitenden Arbeitsflächen verborgen. Das wirkt schön aufgeräumt und besonders wohnlich – und macht in den offen konzipierten Wohnräumen eine gute Figur. Für passionierte Köche ist dieses Versteckspiel hingegen ein Alptraum. Für diese Spezies unter den Küchennutzern sind Kochfeld, Dampfbackofen und Profi-Armatur keine Peinlichkeiten, die es zu verbergen gilt, sondern produktgewordenes Glück, das stolz präsentiert werden sollte. Gleich neben dem 800-Euro-Messerblock auf der Natursteinarbeitsplatte. Die Küche als Werkstatt nimmt diese Bedürfnisse auf und zeigt sich elegant-derb mit viel natürlichen Materialien, offenen Regalen, integrierter Kräuterfarm und Schrankfronten mit Rauchglasdurchblick.

Wer wissen will, was in nächster Zeit Trend ist in der Küche, muss also differenziert vorgehen. In sehr weit über 90 Prozent aller Küchen wird das, was auf der EuroCucina dekoriert wurde, kaum eine Rolle spielen. Und in den oberen und obersten Gefilden des Marktes wird man sich künftig wohl entscheiden müssen. Welche Lebenseinstellung soll umgesetzt werden? Werkstatt oder Wohnzimmer? Beides hat seine Reize. Aber die Oberschränke sollten in jedem Fall auf Griffhöhe bleiben, meint


 
Dirk Biermann, Chefredakteur

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