03.08.2021

Fast alle von uns wollen nachhaltiger leben und lassen die krumme Gurke im Supermarkt trotzdem links liegen. Wenn es das Gemüse überhaupt bis dorthin schafft. 30% der Ernte nehmen die großen Handelsgesellschaften gar nicht erst ab. Weil es an der Optik hapert. Doch auch in den privaten Haushalten landen noch viel zu viele Lebens­mittel unnötig in der Tonne statt im Topf.

Foto: Biermann

Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft geht von 12 Mio. Tonnen Lebensmittelabfällen in Deutschland pro Jahr aus. Andere Quellen sprechen aktuell sogar von bis zu 18 Mio. Tonnen. Foto: BMEL

Das Thema Lebensmittelverschwendung ist nicht neu und doch aktueller denn je. Denn laut der FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen) werden derzeit 1,3 Mrd. Tonnen essbare Lebensmittel unnötigerweise weggeworfen. Dies entspricht fast einem Drittel des aktuellen Nahrungsmittelverbrauchs. Für das Gebiet der EU wird die Menge aktuell auf 88 Mio. Tonnen geschätzt, allein für Deutschland sollen es bis zu 18 Mio. Tonnen sein. Diese Zahlen klingen unvorstellbar und dabei derart abstrakt, dass sie kaum zu fassen sind. ­Frederic Goldkorn versucht es dennoch und spricht von fast einer kompletten Lkw-Ladung, die in Deutschland
jede Minute weggeworfen wird. Zusammengerechnet aus der gesamten Prozesskette von der Erzeugung über die Verarbeitung bis zur Verwendung. Goldkorn zählt zu den Initiatoren des Sozialunternehmens Querfeld (www.querfeld.bio) und ist heute dessen Geschäftsführer. Auf Einladung des Hausgeräteherstellers Braun gab er beim Online-Event „Food Overshoot Day“ 2021 einen Einblick in die Aktivitäten von Querfeld. Das Unternehmen hat es sich zur Aufgabe gemacht, krummes Bio-Gemüse direkt bei den erzeugenden Betrieben vor der Tonne zu retten und stattdessen Großküchen in verschiedenen Regionen Deutschlands damit zu beliefern. Das läuft seit 2015. Seit 2020 bietet Querfeld zudem ein Gemüseabo zur Abholung in der Nachbarschaft in den Städten Berlin, München, Köln und Bonn an. Im Jahr 2020 konnte das Sozialunternehmen nach eigenen Angaben so über 270.000 Kilo Obst und Gemüse aus Deutschland, Spanien und Frankreich retten. Seit Gründung bis zum Jahr 2021 seien es bereits über 900.000 Kilo.

Blick nach vorn
Für Braun, Hersteller von diversen Elektrokleingeräten inklusive Küchenmaschinen, ist die Verarbeitung von Lebensmitteln im Haushalt eine der Kernkompetenzen. Und so lag das Thema der Lebensmittelverschwendung – beziehungsweise der Lebensmittelrettung – nahe, als sich die Verantwortlichen überlegten, dass sie zum 100. Geburtstag des Unternehmens in diesem Jahr nicht nur zurückblicken, sondern einen hilfreichen Beitrag für die Zukunft leisten wollen, wie Hwa-Youl Kim, Brand Managerin Braun, hervorhob. Besonders in Bezug auf die drängenden Herausforderungen einer auf Nachhaltigkeit angelegten Haltung. Neben Frederic Goldkorn nahmen der Filmemacher Valentin Thurn (Filmtitel: Taste the Waste) und die Köchin und Autorin Sophia Hoffmann (Buchtitel: Zero Waste Küche) an diesem Online-Event teil. Moderiert wurde es von Felicitas Then (Köchin, Autorin, Journalistin und Moderatorin). Symbolisch sprach Braun dabei vom „Food Overshoot Day“. Dabei handelt es sich um eine Abwandlung des „Earth Overshoot Day“, der jedes Jahr aufzeigt, zu welchem Zeitpunkt im Jahr die Menschheit so viele Ressourcen verbraucht hat, wie der Planet auf natürlichem Weg erneuern kann. Der „Earth Overshoot Day“ war in diesem Jahr bereits am 5. Mai. Der „Food Overshoot Day“ wurde für den 23. Oktober errechnet. Ab diesem Tag könnten die Deutschen den Rest des Jahres von den Lebensmitteln leben, die sie über das Jahr verteilt allein in den Privathaushalten wegwerfen. Statistisch landen 75 Kilo hochwertig produzierter Lebensmittel pro Kopf und Jahr in der Mülltonne statt im Kochtopf. Das entspräche einem Wert von 235 Euro pro Bundesbürger und Jahr (laut einer forsa-Studie).

Blasses Rot genügt nicht
Filmemacher Valentin Thurn konkretisierte diese Zahlen mit einigen praktischen Beispielen:

  • Kartoffeln werden wegen der Optik zu 40 bis 50% aussortiert, bevor sie in den Handel kommen.
  • Wenn das Rot einer Tomate nicht intensiv genug ist (was in Großbetrieben von einem Scanner erfasst wird), landet diese in der Tonne.
  • Bäckereien haben bis zu 20% Ausschuss; in Deutschland summiert sich dies auf 500.000 Tonnen Abfall im Jahr. (Thurn: „Dabei hat trockenes Brot einen ähnlichen Heizwert wie Holz und könnte wenigs­tens energetisch genutzt werden.“)

Das Fazit des engagierten Filmemachers: „Von dem, was wir in Europa wegwerfen, können wir alle Hungernden auf der Welt zweimal ernähren.“ Doch was tun? Laut Valentin Thurn hilft es, sich an die eigene Nase zu fassen. Denn „die meisten von uns schätzen den Umfang ihrer persönlichen Lebensmittelverschwendung als viel zu gering ein“.

Kochkultur, die Lebensmittel wertschätzt
Für ihn beginnt es mit einer neuen Kochkultur am heimischen Herd, die Lebensmittel deutlicher wertschätzt und die Entfremdung von Lebensmitteln und Erzeugern reduziert. Nötig sei aber auch eine Politik, die die Lebensmittelrettung belohnt und nicht bestraft. Zudem betrachtete er kritisch die Strategie der Lebensmittelindustrie, die das „Mindesthaltbarkeitsdatum“ so einsetzt, dass es die Entsorgung intakter Lebensmittel unnötig fördert. Viele Verbraucher empfinden das aufgedruckte Datum auf der Packung als Wegwerftag.
Auch für die Naturschutzorganisation WWF ist der Umgang mit dem Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) ein großer Treiber bei der Lebensmittelverschwendung. „Ist das MHD bald erreicht, gilt die Ware nicht mehr als verkäuflich“, erläutert die Organisation. Anreize an die Verbraucher, mehr und größere Packungen zu kaufen, sorgten wiederrum dafür, dass vermehrt Abfälle in den Privathaushalten anfallen. Der WWF rät, direkt am Lebensmittel zu riechen oder es zu probieren, statt eine Datumsangabe über Topf oder Tonne entscheiden zu lassen. Einfach mal die Sinne testen lassen. Dafür plädieren auch Frederik Goldkorn sowie die Autorin und Köchin Sophia Hoffmann („ein schlechtes Ei riecht entsetzlich“).

Lieber häufiger einkaufen
Die Gründe der ungeheuren Lebensmittelverschwendung in unserer konsumorientierten Überflussgesellschaft sind vielfältig. Optische Ansprüche der Verbraucher gehen Hand in Hand mit strengen Normen der Handelsunternehmen und der verarbeitenden Industrie. Hinzu kommen Transport- und Lagerschäden. Auch die Buffetkultur der Gastronomie hat sich mit hohen Ausschussraten arrangiert. Im privaten Haushalt liegt es oft an der falschen Lagerung und einer Einkaufsplanung, die bei frischen Lebensmitteln zu sehr auf große Mengen setzt. Die Teilnehmer der Onlinerunde von Braun plädierten einvernehmlich für mehrere Einkäufe im Lauf der Woche statt für den einen umfangreichen Wocheneinkauf. Dies reduziere auch die Menge der Lebensmittel, die im Kühlschrank in zweiter oder dritter Reihe unbeachtet verwelken. Die Vorteile moderner Kühltechnik mit temperatur- und luftfeuchteoptimierten Frischeschubladen wurde nicht thematisiert, ist aus Küchenplanungssicht aber ein elementarer Beitrag, um die Menge des Abfalls zu reduzieren.

Am häufigsten Obst und Gemüse
Was genau alles an Lebensmitteln im Privatmüll landet, lässt derzeit das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft untersuchen. Eine Veröffentlichung der Studie wurde für den „Frühsommer 2021“ angekündigt, ist aber aktuell noch nicht erhältlich. Die letzten durch die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) erhobenen Daten dazu (im Auftrag des Ministeriums) stammen aus dem Zeitraum 2016 / 2017. Demnach werfen Privathaushalte in Deutschland vor allem Obst und Gemüse (34 % der Abfälle) in den Müll, gefolgt von Brot und Backwaren (14 %), Getränken (11 %) und Milchprodukten (9 %). Ein weiterer Befund der Untersuchung: „Je jünger der Haushaltsvorstand, desto mehr potenziell verwertbare Lebensmittel werden weggeworfen. Haushalte mit älteren Personen werfen tendenziell weniger weg.“

So komplett wie möglich
Die Ergebnisse der Studie geben laut Ministerium „Ansatzpunkte für Aufklärungs- und Sensibilisierungsmaßnahmen, ermöglichen Hochrechnungen und zeigen, wo die größten Einsparpotenziale sind.“ So ließe sich etwa durch bessere Einkaufsplanung und passendere Zubereitung von Mahlzeiten gegensteuern. Was zum Abschluss der Braun-Onlinerunde zum „Food Overshoot Day“ das Spezialgebiet von ­Sophia Hoffmann ansprach. In ihren Büchern steuert sie zahlreiche Ideen bei, wie Lebensmittelabfall vermieden und eingekaufte Lebensmittel so vollständig wie möglich verarbeitet werden können. Das dazu nötige Grundwissen vermittelt sie mit konkreten Rezepten, die auch das Grün der Möhren und die Schale der Kohlrabi berücksichtigen. Ihr Credo ist intuitives Kochen. Dies will sie mit ihrer Arbeit fördern und damit der Lebensmittelentfremdung entgegentreten. Und das ganz praktisch: Wer sich beim Gemüseputzen fragt, „ob man das essen kann oder nicht“, sollte einfach mal hineinbeißen und probieren. Und anschließend individuell entscheiden, was mit der Zutat geschehen könnte: Kochen, Garen, Backen, Braten? Und das püriert, zerkleinert, geraspelt, gehäckselt oder in Scheiben geschnitten? „Es ist erstaunlich, was mit müdem Gemüse und matschigen Beeren alles zu machen ist“, schwärmte Sophia Hoffmann, und man glaubt ihr sofort, dass sie schon vieles ausprobiert hat.

Dirk Biermann



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