Schlimmer geht immer
Der Konjunktiv hat Konjunktur und kleidet sich bevorzugt als „könnte“. Es könnte dieses oder jenes stattfinden. Wenn etwas geschieht oder nicht oder versäumt wird zu tun. Die nächste Coronawelle könnte noch viel schlimmer werden, die nächste Virusvariante noch viel ansteckender. Die nächste Hitzewelle könnte heißer werden denn je, das nächste Unwetter noch mehr Regen, Hagel und Tornados bringen. Putin könnte den Gashahn nach der turnusmäßig anberaumten Technikwartung geschlossen halten (Stand 19. Juli 2022). Die Inflation könnte noch viel höher ausfallen, der Aufwand für Energie weiter steigen.
Wer gerne zusätzlich Alarmstimmung verbreitet, kommt gerade auf seine Kosten. Und wer den Konjunktiv für Fortgeschrittene beherrscht, hat Chancen auf eine großformatige Schlagzeile, einen tausendfach gelikten Social-Media-Post oder einen Talk im TV. Diese Experten jedweder Fachrichtung (Alarmismus ist eine Frage der Mentalität statt des Arbeitsplatzes) kombinieren „könnte“ mit „wenn“ und modellieren so einen destruktiven Sog feinster depressiver Güte. Unter Missachtung jeglichen psychologischen Grundwissens. Oder gerade damit.
Es wird auf Zukunftsoptionen hin gesorgt, beklagt und geängstigt. Und gewarnt. Deutschland am Boden, wenn ..., ja wenn …! Ja was, wenn? Ganz bestimmt, wenn die Alarmisten gleich welchen Lagers die Diskussionen beherrschen und weiter zusätzlich Angst und Schrecken verbreiten. Die Betonung liegt auf zusätzlich. Dass sich Minister und Unternehmenslenker mit krisenhaften Szenarien beschäftigen und Risiken aufzeigen müssen, bleibt davon unberührt. Was daran so bitter ist: Es gibt wahrlich genug Gründe für Unsicherheit und Besorgnis. Für selbstkritische Standortbestimmungen und mutige Verhaltensänderungen. Auch, aber nicht nur wegen der akuten Energiediskussion, die an dieser Stelle keineswegs verharmlost werden soll. Diese Zustände rund um die drängenden Probleme von Corona über Energie und Klima bis Putin (oder umgekehrt) fordern aber einen möglichst kühlen Kopf. Und keine zusätzliche und vorauseilende Hysterie, vor der selbst das schlangenfokussierende Kaninchen wie ein rosa Optimismus-Schlumpf wirkt.
Seriöse Prognosen sind einfach zu schwierig geworden, als dass damit leichtfertig umgegangen werden sollte. Szenarien können zutreffen oder nicht, mal noch viel schlimmer werden als gedacht oder auch nicht. Fast meint man, es habe sich ein Wettprognostizieren etabliert. Nach dem Motto: Wer hat die schlimmste aller Mutmaßungen.
Auch in der Küchenbranche mehren sich die Sorgen. Bei der logistik- und rohstoffgestressten Industrie nachvollziehbar als Dauerzustand. Und im Handel je nach Vermarktungsidee in unterschiedlicher Intensität. Auf der Großfläche und im Discount, so heißt es, sei das Sommerloch nicht nur eine Frage der Temperatur. In der höherwertigen und hochwertigen Küchen- und Wohnraumplanung liefe es hingegen ordentlich. Das kann unterschiedlich betrachtet werden. Je nachdem, welcher Referenzwert herangezogen wird. Meist ist das der Umsatz. In dieser Hinsicht war 2011 ein besonderer Jahrgang mit überproportionalen Steigerungen auf ohnehin hohem Niveau. Schon seit mehr als zehn Jahren surfen Industrie und Handel auf einer beispiellosen Erfolgswelle. Corona hat der Nachfrage einen zusätzlichen Booster verpasst, wie wir inzwischen wissen.
Wer nun mit Blick auf die real abgekühlte Küchenkonjunktur des laufenden Jahres bereits eine tiefgreifende Krise manifestiert sieht, verliert sich in voreiliger Schwarzmalerei. Ist es nicht auch so, dass der überhitzte Küchenmarkt von einer etwas gemäßigteren Fahrt sogar profitieren könnte? (paradoxer Alarmismus!) Denn viele Unternehmen in Industrie und Handel hat die extreme Nachfrage der letzten beiden Jahre bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit gebracht. Dabei geraten oft interne Strukturen aus dem Blick.
Die Phase der Warenverteilung ist vorbei, die Budgets der Kücheninteressierten immer öfter beschränkt. Wegen der die immensen Steigerungen bei den Energie- und Lebenshaltungskosten. Es kommt im Handel mehr denn je auf Kernkompetenzen an: fachkundige Beratung, tragfähige Strategien und eine vertrauensvolle Beziehungspflege. Damit rücken die eigenen Einflussfaktoren nach vorn. Was nicht unbedingt bequem sein muss: Jüngst wandte sich die Möbelfachschule in Köln mit einem Brandbrief an die Öffentlichkeit. Mit einer deutlichen Botschaft: Die Branche muss aufwachen und sich für die Ausbildung von Fachkräften engagieren. Wörtlich heißt es: „Wenn es so weitergeht, stehen wir in wenigen Jahren ohne jeden fähigen Nachwuchs da.“ Diese Einschätzung wiederum hat nichts mit Alarmismus zu tun und kommt auch nicht aus dem Kaffeesatz.
Dirk Biermann
Dieser Beitrag ist als Editorial unter dem Titel „Im Daueralarm“ in der Ausgabe KÜCHENPLANER 7/8 2022 erschienen. Das E-Paper der jeweils aktuellen KÜCHENPLANER-Ausgabe wird zweimal wöchentlich mit dem Newsletter versendet. Hier können Sie den Newsletter bestellen: https://www.kuechenplaner-magazin.de/login/