08.08.2024

Einsatz, Eleganz, Wille, Emotionen, Drama: Die Fußball-EM der Männer war ein Erlebnis auf vielen Ebenen. Und ein großes, buntes Miteinander. Trotzdem wurde gemäkelt, was das subjektive Expertenwissen hergibt.

Dirk Biermann.

Julian Nagelsmann steht sicher nicht im Verdacht, der neue Ethikbeauftragte der Bundesregierung zu werden. Auch wenn die Ansprache des Bundestrainers nach dem EM-Aus etwas Präsidiales hatte. Der Appell an die Gemeinschaft und an das Gemeinsame und daran, die schönen Seiten dieses Landes wahrzunehmen und nicht immer alles so negativ zu reden – wer wollte ihm da widersprechen? Ich jedenfalls nicht. Natürlich löst das nachbarschaftliche Heckenschneiden nicht alle Probleme, aber ich fühlte mich, wie anscheinend Millionen andere auch, wohltuend angesprochen. Und auch ein wenig getröstet nach diesem selbstverständlich völlig ungerechten Ausscheiden gegen den späteren Turniersieger Spanien. Und der Trost tat gut, denn im Hintergrund schwelte Unverständnis.

Es war einige Tage zuvor beim EM-Spiel Deutschland gegen die Schweiz, als ich etwa um die 70. Spielminute herum bemerkte, wie der innere Zustand leichter Verwunderung in Gereiztheit umschlug und schließlich in Verärgerung. Auslöser waren die Mäkeleien der Kommentatoren. Eigene gute Aktionen wurden meist nüchtern benannt, gekonnte Spielzüge der Schweizer stets mit „kapitalen Fehlern“ eines deutschen Akteurs in Verbindung gebracht und bis über die Grenzen des Erträglichen hinaus aufgebauscht. „Deutschland strauchelt“, fand ich als Zwischenfazit schon gewagt. Bei „Deutschland in der Krise“ riss der Geduldsfaden. Was für eine einseitig negative Sicht. Und was für eine respektlose Missachtung der Leistung der Schweizer Fußballnationalmannschaft. Hallo? Hier ist EM-Endrunde. Mit Mannschaften auf Augenhöhe, gespickt mit internationalen Fußballfachkräften. Und nicht der Kickerbräu-Cup der lokalen Thekenmannschaften.

Der aufkommende Unmut rief tiefere Erinnerungen wach. Aus dem Jahr 2008. Wieder geht es um Fußball. Ich fieberte auf der Terrasse eines Campingplatzlokals am Vierwaldstättersee zusammen mit drei anderen mäßig interessierten Gästen vor einer Großleinwand dem Finaleinzug der deutschen Mannschaft entgegen. Was in diesem EM-Spiel gegen Italien bekanntlich nicht gelang, aber das ist eine andere Geschichte. Übertragen wurde das Spiel standortgerecht vom Schweizer Fernsehen, natürlich mit einem Schweizer Sportreporter am Mikrofon. Einen Co-Kommentator gab es auch: Volker Finke, damals Trainer des SC Freiburg. Und auch der ging angesichts eines Chancenverhältnisses mit Vorteilen für die Männer in Azurblau schonungslos mit den bundesdeutschen Kickern ins Gericht. Bis der Chefmoderator aufbegehrte und seinen Gast fragte: Herr Finke, Sie wissen aber schon, dass hier zwei Mannschaften auf dem Platz stehen und die Italiener auch Fußball spielen können? In diesem Moment erwog ich, Fußballspiele der Nationalmannschaft künftig nur noch im Schweizer Fernsehprogramm zu schauen. Wegen der Neutralität. Wann genau dieser Vorsatz in Vergessenheit riet, kann ich gar nicht sagen. Vielleicht 2014 im Rausch von Rio.

Gedanklich zurück im Jahr 2024 haderte ich mit diesem Versäumnis und fragte mich, ab wann zu viel Spezialwissen eigentlich mehr schadet als nützt. Wir hören diesen Experten wohlwollend zu, aber letztlich sind es auch nur persönliche Meinungen, von denen wir nicht mal wissen, wie sie zustande gekommen sind. Ob Sport oder Wirtschaft: Manche Experten sehen vor lauter halb leeren Gläsern die Welt nicht mehr als Ganzes. Doch dann sprach der Bundestrainer und brachte mich auf andere Gedanken: Andauernde Mäkeleien bringen nichts. Gar nichts wird dadurch besser. Im Gegenteil: Kritiksucht und Fehlerverliebtheit, die über das hilfreiche Reflektieren hinausgehen und selbstverständlich kritisch sein dürfen, ruinieren die Stimmung und rauben die Energie für die Dinge, die einen nach vorn bringen. Diese Überlegungen führen geradewegs zu den Inhalten dieser Ausgabe. Unter anderem zur Hettich Education Academy in Kirchlengern, wo das Recruiting und die Aus- und Weiterbildung seit gut zweieinhalb Jahren mit erfrischender Kreativität gedacht und praktiziert wird. Dinge mutig anders machen, wenn die bisherigen Strategien nicht mehr funktionieren. Bei aller journalistischer Distanz zum Gegenstand der Berichterstattung: Das hat mir gefallen.

Dirk Biermann
Chefredakteur KÜCHENPLANER print & digital


Dieser Beitrag ist als Editorial in der Ausgabe KÜCHENPLANER 7/8 2024 erschienen.



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