09.08.2024

Das haben wir bislang immer so gemacht! Wo kommen wir denn dahin?! Diese beiden Sätze werden in der Hettich Education Academy vermutlich nie zu hören sein. Außer vielleicht in einem ironisch unterlegten TikTok-Reel.

Noel Friesen bereitet sich auf seinen künftigen Beruf als Werkzeugmechaniker vor. Er ist einer von aktuell 178 Auszubildenden bei Hettich (Stichtag 15. August). Foto: Biermann

Berichten vom Werdegang und aus der Praxis in der Hettich Education Academy (Foto von links): Anny Sengpiel (HR-Service), Joy Junghenn (Marketing) und Lars Bohlmann (Geschäftsführer). Foto: Biermann

Blick in eine der Ausbildungswerkstätten „Metall“: Die Auszubildenden (hier Luca Pommerenke, Werkzeugmechaniker im 1. Lehrjahr) werden von Beginn an den digitalen Workflow gewöhnt. Die Aufgabenstellungen werden per Tablet bereitgestellt. Die Maschinenausstattung in den Ausbildungswerkstätten (Metall und Elektro) entspricht der in der Produktion. Foto: Biermann

Das „Info-Board“ ist der kommunikative Dreh- und Angelpunkt für die Auszubildenden. Foto: Biermann

Um Missverständnissen vorzubeugen: Bei Hettich wird gezielt ausgebildet. Fundiert und kompetent in 13 Ausbildungsberufen und zwei dualen Studiengängen. Am Ende der Lehrzeit steht, wie überall, eine Prüfung, und die will bestmöglich bestanden werden. Zudem hat das Unternehmen ein elementares Interesse an zuverlässigen und gut ausgebildeten Fachkräften. So weit, so normal.
Der Weg dorthin ist in Kirchlengern jedoch ein besonderer. Vor zweieinhalb Jahren gründete das Unternehmen unter dem Dach der Hettich Holding eine eigenständige Ausbildungsgesellschaft, an der die Auszubildenden beteiligt sind und eigenständig mitwirken können. Das hört sich ungewöhnlich an und das ist es auch. Doch es funktioniert: Im zunehmend härteren Wettbewerb um Nachwuchskräfte hat Hettich in der Region gute Karten, weil sich herumgesprochen hat, dass dort das Lernen irgendwie anders läuft. Zwar fühlt sich nicht gleich jeder davon angesprochen, manche aber schon. „Ich fand die Idee von Anfang an cool“, erzählt Joy Junghenn, die erst vor wenigen Wochen ihre Ausbildung zur Fachkraft für Lagerlogistik erfolgreich abgeschlossen hat und jetzt im Marketing des Unternehmens arbeitet. Wie das? Logistik und Marketing? Wo ist da die Verbindung? Sie liegt in der Person der 25-Jährigen, die vor der Ausbildung ihr Fachabitur mit dem Schwerpunkt Mediengestaltung absolvierte und damit die nötigen Vorkenntnisse mitbringt. Sie bewarb sich in der Abteilung, weil sie großes Interesse am Marketing hat, und dort war man der Ansicht: „Das passt!“ Für Lars Bohlmann, Geschäftsführer der Hettich Education Academy, ist der Werdegang von Joy Junghenn ein hervorragendes Beispiel dafür, wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Hettich „außerhalb der klassischen Denkweise“ gefördert werden.

Attraktivität als Arbeitgeber steigern
Doch zurück auf Start. Genauer gesagt, ins Jahr 2021, als Lars Bohlmann an einem Konzept für eine neuartige Ausbildungsgesellschaft feilte, mit dem er den Beirat des Unternehmens überzeugen wollte, neue Wege in der Aus- und Weiterbildung zu gehen. Damit das Unternehmen zukunftsfähig bleibt und sich im regionalen Wettbewerb um Nachwuchskräfte mit einem eigenen Gesicht behaupten kann. Sein Kernargument: „Wir lassen die Auszubildenden parallel zu den bestehenden Lehrplänen möglichst selbstständig und eigenverantwortlich mitgestalten und eigene unternehmerische Entscheidungen treffen. Damit fördern wir eine stabile Unternehmenskultur und steigern unsere Attraktivität als Arbeitgeber.“ Ein Vorbild für ein solches Unternehmen hatte Bohlmann zwar nicht, aber er wusste, wovon er sprach. Er ist seit 2012 im Unternehmen und seit 2018 verantwortlich für alles, was mit Human Resources (kurz HR) zu tun hat. Seit 2020 ist er Geschäftsführer der Hettich Management Service GmbH. Der Beirat mit dem Beiratsvorsitzenden Dr. Andreas Hettich an der Spitze hörte sich das Konzept an, prüfte es mit ostwestfälischer Gründlichkeit und entschied: „Das machen wir!“

Aus- und Weiterbildung unter einem Dach
Seitdem ticken die Uhren in Sachen Aus- und Weiterbildung in Kirchlengern im eigenen Takt. Ein Workshop wurde anberaumt, zu dem alle Beteiligten eingeladen waren: die damals 170 Auszubildenden, die Ausbilderinnen und Ausbilder sowie alle weiteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die bei Hettich mit Aus- und Weiterbildung zu tun haben. Denn beide Perspektiven sollten künftig in einem Unternehmen zusammengeführt und miteinander verzahnt werden. Zu den Aufgaben der ersten Stunde gehörte auch die grundsätzliche Überzeugungsarbeit, dass alle, vom Auszubildenden bis zur Führungskraft, ihre bestehenden Verträge in die neue Gesellschaft überführen. Und überhaupt: Wie sollte die neue Gesellschaft eigentlich heißen? Bis zur endgültigen Namensfindung entschied man sich vorläufig für NewCo, die Abkürzung für New Company. Große Einigkeit herrschte bei den Vertragsfragen. Niemand sprach sich dagegen aus.
Seitdem sind alle Aus- und Weiterbildungsaktivitäten in Ostwestfalen bei Hettich in einer eigenständigen GmbH gebündelt. Geschäftsführer ist Lars Bohlmann. Weitere Führungskräfte sind Ausbildungsleiter Dirk Bartz sowie Holger Heuermann als Leiter der Hettich Academy, die sich innerhalb der neuen Gesellschaft konkret um die Weiterbildung kümmert. Aber nicht mehr losgelöst von den Ausbildungsaktivitäten, sondern vernetzt mit ihnen. Der Firmenname NewCo wurde bereits im Herbst 2022 abgelöst. Nach einem gemeinsamen Ideenfindungsprozess entschied sich die Mehrheit für Hettich Education Academy, kurz HEA.

Auswirkungen auf das ganze Unternehmen
Was sich in der Kurzfassung so einfach und wie ein erreichtes Ziel anhört, war in der Praxis der Startschuss für einen kontinuierlichen Prozess, der bis heute andauert. „Veränderungen in der Aus- und Weiterbildung betreffen das ganze Unternehmen“, bestätigt Lars Bohlmann. Und wie immer im Leben lassen sich manche Menschen schneller von einer neuen Idee überzeugen, andere brauchen mehr Zeit oder wollen sich einfach nicht zusätzlich engagieren. Auch das wird in der HEA nicht vorausgesetzt. „Mitbestimmung, Mitwirkung und unternehmerisches Denken werden nicht verordnet, sondern sind freiwillig“, berichtet Anny Sengpiel. Die heute 20-Jährige gehörte als damalige Auszubildende ebenfalls zu den Gründungsmitgliedern der HEA/NewCo und hat gerade ihre Abschlussprüfung als Industriekauffrau bestanden. Eine Anschlussbeschäftigung hatte sie da schon in der Tasche: Gemeinsam mit HR Partnerin Svenja Hagenah füllt sie im HEA-Team das HR Ausbildung mit Leben. Das heißt, sie ist zuständig für das Recruiting künftiger Auszubildender, für Auswahl- und Einstellungsverfahren, Vertragsmanagement, Zeugniserstellung ... und ... und ... und. Oder wie Anny Sengpiel es selbst formuliert: „Wir sind Ansprechpartnerinnen für alle Belange und Fragen der Auszubildenden“.

Mitwirkung ist keine Bedingung
Das Prinzip der Freiwilligkeit ist allen Beteiligten der HEA wichtig. Wer als Auszubildender zu Hettich kommt und einfach nur seine Ausbildung machen will, ist genauso willkommen wie jemand, der sich über die Ausbildung hinaus in der Praxis ausprobieren möchte. Die Möglichkeiten dazu sind vielfältig. Aus dem Unternehmensalltag heraus bilden sich immer wieder neue Arbeitsgruppen (so genannte Circles) zu Themen wie Recruiting, Eventorganisation, Strategie, Vision, Innovation, Kommunikation, Marketing oder Betriebswirtschaft. Zudem beteiligen sich die jungen Menschen on- und offline an konzernweiten Aktivitäten wie den internationalen „FutureDays“ oder „Ausbildung live@hettich“, eine Art standortbezogenem Tag der offenen Tür. Mit der erwähnten Selbstständigkeit und Eigenverantwortung gehen die Auszubildenden an diese Themen heran und setzen sie im Netzwerk mit anderen Hettich-Abteilungen in die Praxis um. Auf ihre Weise und ohne Einmischung der Ausbilder oder des Geschäftsführers Lars Bohlmann. Die Unternehmenswerte von Hettich geben aber den grundsätzlichen Rahmen vor: kein Rassismus, kein Mobbing, keine Abwertung - dafür Respekt und Vielfalt.

Kontrovers diskutierte TikTok-Reels
Besonders anschaulich wird dies beim TikTok-Kanal der HEA. In kreativen Reels setzen die Hettich-Azubis ihren Betriebs- und Ausbildungsalltag in Szene und wenden sich damit an andere junge Menschen an. Auf Augenhöhe („von jungen Menschen für junge Menschen“) und in der jeweils aktuellen Sprache. Was anfangs nicht jeder im Unternehmen vorbehaltlos gut fand. Die ersten Kurzvideos wurden sogar quer durch viele Abteilungen kontrovers diskutiert. Was für Lars Bohlmann aber kein Grund war, steuernd einzugreifen. „Auch diese Situation musste eigenständig gemeistert werden“, erzählt der Geschäftsführer. Was zu viel Kommunikation und Dialog führte. „Dabei hat jeder viel für sein künftiges Berufsleben gelernt“, ist er überzeugt. Er selbst habe sich auch manchmal gefragt, „was die da machen“. Ihm sei aber klar gewesen, dass er mit seinen 42 Jahren aus manchen Jugendprozessen heraus sei. Da aber auch hier der rechtliche Rahmen geklärt war, konnte er die Aktivitäten aufmerksam verfolgen: Konkret wurde der TikTok Kanal vorab vom Datenschutz- und Informationssicherheitsteam des Unternehmens geprüft und freigegeben. So dürfen beispielsweise keine personenbezogenen Daten oder sensible Unternehmensinformationen veröffentlicht werden. Außerdem müssen die jungen Content-Ersteller darauf achten, dass alle Bildrechte gewahrt bleiben. Insbesondere das Recht am eigenen Bild. Für die Aufnahme und Weiterverarbeitung erhielten die Auszubildenden ein eigenes TikTok-Handy.
Inzwischen haben sich die anfänglichen Wogen geglättet und der TikTok-Kanal spielt eine wichtige und hilfreiche Rolle bei der Nachwuchswerbung. "Unsere Aufgabe ist es, jedes Jahr 60 bis 70 neue Auszubildende für Hettich zu finden", sagt Lars Bohlmann und lässt mögliche Missverständnisse gar nicht erst aufkommen: "Wenn die HEA das nicht schafft, haben wir unseren Unternehmenszweck verfehlt.

Dirk Biermann



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