08.02.2012

„Stresstest“ heißt das Wort des Jahres 2011. Das meint zumindest die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS), die sich seit 40 Jahren auf diesem Gebiet wichtig macht. Was ein Wort des Jahres im Detail auszeichnet, bleibt nebulös; verliehen wird es aber nicht einfach so. Vor der Siegerkür müssen die Kandidaten durch ein pingeliges Auswahlverfahren.

Mitmachen dürfen Wörter und Wendungen, die das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben eines Jahres sprachlich in besonderer Weise begleitet haben.

3000 Kandidaten hatten sich dem Casting gestellt; zehn von ihnen gelang der Sprung in die finale Mottoshow. „Merkozy“ und „guttenbergen“ setzten auf den Promi-Faktor, „Fukushima“ auf fernöstlich geprägte Gut-dass-das-alles-so-weit-weg-ist-Exotik, und die „Killersprossen“ hofften auf den Scream-Effekt – Retro ist schließlich mal wieder modern. Ob es sich bei „Ab jetzt wird geliefert!“ und „Wir sind 99 %“ eher um Versprechungen handelt oder um Drohungen, blieb unklar. Zu den Favoriten zählte auch der oder das Burnout. Entsprechend enttäuschend der abschließende 6. Platz für die Erschöpfung. Zwar sei das Wort und insbesondere die Krankheit schon seit Längerem verbreitet, erklärte die Jury, doch sei Burnout zunehmend als Ausdruck der Probleme unserer heutigen schnelllebigen Zeit zu verstehen und verbreite sich als Begriff derzeit geradezu inflationär.


Was an Stresstest besser sein soll, weiß der Geier. Pardon: die Jury, die sich aus dem Hauptvorstand der Sprach-Gesellschaft sowie den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zusammensetzt. Und Preisrichter, zumal von der GfdS, wissen mit erklärenden Wörtern umzugehen: Für die Auswahl der Wörter des Jahres entscheidend sei nämlich nicht die Häufigkeit eines Ausdrucks, sondern seine Signifikanz und Popularität. „Die Liste trifft den sprachlichen Nerv . . . und stellt auf ihre Weise einen sprachlichen Jahresrückblick dar.“ Als ein solcher Beitrag zur Zeitgeschichte seien die ausgewählten Wörter mit keinerlei Wertung oder Empfehlung verbunden.


„Mit keinerlei Wertung oder Empfehlung verbunden“. So, so. Da stellt sich die Frage: Warum das Ganze? Zumal die undurchsichtigen Auswahlkriterien der Nörgelei Tür und Tor öffnen. Was zum Beispiel ist mit der Krise? Die fehlt in den Top Ten völlig. Zwar hatte es bereits 2008 die Finanzkrise auf den Sprachthron des Jahres geschafft, doch Krise ist viel zeitgemäßer. Frei von Schnörkeln, porentief rein und universell einsetzbar. Krise ist überall und vertraut geworden wie eine kleine Schwester. In der FDP ist sie chronisch daheim, in der Putenzucht und im Gesundheitswesen ebenso. Der Bundespräsident hatte sie zum Jahreswechsel ganz schlimm, und die Ärzteschaft auf dem Land leidet seit Jahren. Der Euro sowieso, von Griechenland, Italien, Spanien und Irland fast zu schweigen. Und der Bundeshaushalt erst. Auch das Wetter war 2011 selten, wie es sein sollte. Zu warm im April, zu kalt im Juli, zu trocken im November, zu nass im Dezember. Und überhaupt: Warum hat es an Heiligabend nicht überall geschneit? Geradezu krisenhaft.


Lediglich die Arbeitsmarktzahlen tanzen aus der Reihe: weniger als drei Millionen Männer und Frauen sind derzeit ohne Erwerbsarbeit. Mit 6,4 Prozent liegt die Arbeitslosenquote so niedrig wie zuletzt vor 20 Jahren. Aus einer anderen Perspektive betrachtet: Über 41 Millionen Menschen haben derzeit einen festen Arbeitsplatz - das sind so viele wie nie zuvor. Sollte die Arbeitsmarktstatistik der „Krise“ bei der Wahl zum Wort des Jahres 2011 etwa die Tour vermasselt haben? Das wäre mal ein Skandal.


Die am Wirtschaftsleben Beteiligten sind zur Wachsamkeit gemahnt. Damit das mit den positiven Nachrichten vom Arbeitsmarkt nicht aus dem Ruder läuft, könnte zum Beispiel in einer gemeinsamen Aktion der vielfach beklagte Fachkräftemangel in der Möbel- und Küchenbranche gepflegt werden. Betrachten Sie als Arbeitgeber Ihre Mitarbeiter weiterhin als Angestellte, deren körperlicher und geis­tiger Einsatz für Ihr Unternehmen mehr als fürstlich entlohnt wird und keinerlei sonderlichen Würdigung verdient – weder materiell noch zwischenmenschlich. Bügeln Sie fixe Ideen von Fort- und Weiterbildung konsequent ab, ebenso Wünsche nach flexiblen Arbeitszeiten oder gar nach Teilzeit. Maßnahmen zur Erhaltung der Lebens- und Arbeitsenergie derer, die das Geld für Sie verdienen? Ignorieren Sie positive Beispiele aus anderen Branchen rund um die betriebliche Gesundheitsvorsorge, dann kann man Ihnen auch nichts. Ethik im Unternehmen? Pah, was für Weicheier. Nachhaltigkeit kommt, Nachhaltigkeit geht. Augen zu und durch: Fördern Sie starre Strukturen und verstehen Sie Kommunikation als Einbahnstraße, deren Ausgangspunkt geheime Chefsache bleiben muss. Dann wandern die guten Leute von ganz allein ab und die „Krise“ hätte 2012 eine echte Chance, zum Wort des Jahres gekürt zu werden. Das muss doch hinzukriegen sein, meint

Dirk Biermann, Chefredakteur
d.biermann@kuechenplaner-magazin.de