Sturm im Wasserglas
Wie so oft hilft es, die Scheuklappen etwas zu lüften und den Blick weit werden zu lassen. In diesem Fall auf das, was vor 2012 stattfand. Konkret: 2011. Das war ein prima Küchenjahr. Wer sich als Hersteller, Händler oder Verband unternehmerisch nicht total verweigerte oder schlimme Altlasten mit sich herumzuschleppen hatte, jubelte über zweistellige Zuwachsraten. Die Bilanzrekorde purzelten nur so. Dass in den Monaten vor 2011 die Überschuldungs- und Finanzmarktkrise manchen Märkten die Beine weggehauen und famose Zuwachsraten zurück auf ehemaliges Niveau erst möglich gemacht hat? Schwamm drüber. Wer will den glockenklaren Klang aneinanderstoßender Champagnerkelche schon mit solchen Spitzfindigkeiten vermiesen?
Nun zeigt der Kalender Dezember 2012. Etliche Marktteilnehmer stöhnen, und das gute Kristall steht wieder sicher verstaut in der Vitrine unten links. Denn nach einer soliden bis furiosen Lage in den ersten sechs Monaten, kühlten die Verkäufe in der zweiten Jahreshälfte merklich ab. Umsatzprognosen wurden angepasst. Mit der Botschaft: „Alles nicht so gut wie gedacht – und höchstens zwei, drei Prozent besser als 2011.“
Die Tendenzen zur dramatisch angehauchten Übertreibung sind bei diesen Vorgängen allgegenwärtig und laufen Gefahr, Ereignisse aus dem Zusammenhang zu lösen. 2011 war ein tolles Küchenjahr mit erheblichen Wachstumsraten. Dieses Ergebnis wird in diesem Jahr aller Voraussicht nach nicht nur gehalten, sondern sogar ausgebaut. Wenn auch bescheiden. Nun klagen wir in Deutschland über ein Küchen- und/oder Möbelplus von „mageren“ zwei, drei Prozent, und Stimmen werden laut, die vieles in Schutt und Asche wähnen. Ein lütter Sturm im Wasserglas? Oder steckt mehr dahinter? Grund zur Sorge besteht allemal. Allen voran über den eingeschränkten Wahrnehmungshorizont vieler strategisch platzierter Wirtschaftsprognosen – diese sind überraschend oft national getrimmt. Und das in einer Welt, die ihrem materiellen Wohlstand den eingerissenen Grenzen der Globalität verdankt.
„Zwei, drei Prozent Wachstum“ = Krise? Irritierend. Manche unserer Nachbarn haben Sorge, ihre Arbeitslosenquote unter 25 Prozent zu halten – bei jungen Menschen sogar unter 50 Prozent. Alte Menschen in fast ganz Südosteuropa bangen, ob ihre Rente am nächsten Ersten tatsächlich überwiesen wird, und nicht wenige Länder fragen sich, ob sie sich auf ihre Nachbarn verlassen können. In der Not nicht allein zu stehen, davon haben einst auch die Menschen hier in Deutschland profitiert. Aber das ist lange her. Zu lange?
In allen Ländern Europas drängen strukturelle Probleme, sonst gäbe es nicht so viele Schulden. Manchen Nationen geht es ökonomisch betrachtet gar um die Existenz. Ebenso wie den gesundheitlich und wirtschaftlich ausgebeuteten Arbeitern in Afrika, China, Bangladesch oder Indien, die unter menschenverachtenden Zuständen Billigwaren für unseren Wegwerfkonsum produzieren.
Der scheuklappengelüftete Blick offenbart eine weitere Perspektive: Westeuropa lebt dank visionär gelebter Solidarität seit 67 Jahren in Frieden. Davon konnten unsere Vorfahren nur träumen. Menschen in vielen anderen Regionen der Welt ganz aktuell auch. Wir scheinen uns so sehr daran gewöhnt zu haben, dass Europa im Großen und Ganzen funktioniert, dass wir gar nicht merken, wie leichtfertig wir den Erfolg einer Arbeit von Jahrzehnten aufs Spiel setzen, wenn die Parolenschreier der politischen Stammtische die Oberhand gewönnen. Was keineswegs einer Pilcherisierung der Diskussion das Wort reden soll.
Die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union ist ein Signal zur rechten Zeit. Es sollte gehört und beachtet werden. Ja, auch in der Küchenbranche! Denn ob Europa und die europäischen Märkte weiterhin funktionieren, hängt nicht allein von Frau Merkel und Herrn Schäuble ab. Die zahllosen täglichen Entscheidungen aller am Wirtschaftsprozess Beteiligter sind es, die darüber maßgeblich entscheiden. Einem reformbedürftigen Europa den Rücken zu kehren und mit seinen auf Verdrängung zielenden Haltungen „einfach“ ein Häuschen weiter zu ziehen, führt in eine Sackgasse.
Komplexe Zusammenhänge wie diese sind anstrengend und verschließen sich einfachen Antworten. Neue und undogmatische Betrachtungsweisen sind gefragt. Wie gewohnt ausschließlich auf quantitatives Wachstum zu setzen bei gleichzeitiger Geheimniskrämerei um den Ertrag, zählt wohl nicht dazu. Geschirrspüler zu verschenken auch nicht. Kreative Ideen und Entscheidungen umso mehr – lokal, national und global.
Dirk Biermann, Chefredakteur
d.biermann@kuechenplaner-magazin.de
PS: Am 14. Januar beginnt die LivingKitchen in Köln. Für Händler eine Gelegenheit, einen Busausflug mit ausgewählten Kunden zu organisieren. Um sich selbst einen Eindruck zu verschaffen, ob die aktuelle Lage in der Küchenbranche nun Nörgelei oder Zuversicht verdient – oder irgendwas dazwischen.