Synthetic Media
Ich nutze Social Media täglich und gerne. Manchmal geht es mir jedoch auf die Nerven, von einem Algorithmus wie am Nasenring durch die eigene Filterblase gezogen zu werden. Von einer Werbeanzeige zur nächsten. Dann frage ich mich, was der Unsinn eigentlich soll. Facebook: ein kulturübergreifend pöbelnder Stammtisch. Insta: eine bis zur Unkenntlichkeit gefilterte Welt, in der man vor lauter menschlicher Unzulänglichkeit nur scheitern kann. TikTok: eine bunt-flimmernde Maschinerie, die unsere Aufmerksamkeit in Sekundenhäppchen stückelt und unser Konzentrationsvermögen unter Goldfischniveau drückt. YouTube, Snapchat, Pinterest, X – alles ähnlich in differenzierten Abstufungen. Die Messenger-Dienste erwarten Reaktionen in Echtzeit. Was ein Stress. Etwas Erholung versprachen bislang allein die beruflichen Netzwerke, aber auch hier wird die Oberfläche immer glatter. Und mal im Ernst: Wie lange wird LinkedIn-Mama Microsoft dem werbefreien Treiben außerhalb des kostenpflichtigen Premium-Accounts wohl noch zuschauen?
Natürlich geht es keinem der Betreiberkonzerne um eine bessere Welt, um menschliche Verbundenheit oder um Informationen, die helfen könnten, Ungerechtigkeiten zu beseitigen oder zu verhindern. So viel Naivität tut weh. Den Plattformen geht es allein um Werbeeinnahmen (Elon Musk und X zusätzlich um Ideologie) und deshalb brauchen sie unsere Aufmerksamkeit. Mit welchen Mitteln wir auf den Plattformen gehalten werden, ist austauschbar und hinlänglich bekannt. Gewalt, Hass oder Hetze, Verleumdung, Mobbing oder Voyeurismus: Hauptsache wir klicken immer weiter und verlieren uns im Rausch des Dopamins. Besonders forsche Online-Marketing- und Social-Media-Agenturen suggerieren, dass die Welt aus Klicks, Kommentaren und Followerzahlen besteht. Was ein Irrsinn.
Auf den digitalen Plattformen geht es um Menge und Masse und alle scheinen sich damit arrangiert zu haben. Was sind wir doch abhängig geworden von Likes, augenzwinkernden Emojis und Herzen, die vor Freude Purzelbäume schlagen. Kaum gepostet, checken wir die Reaktionen; freuen uns über Kommentare und werden nervös, wenn keine kommen.
Das Leben auf Social Media könnte so befriedigend sein, wären da bloß nicht das Diktat der Reichweite und die vielen anderen permanenten Selbstkundgaben. Und es wird immer schriller, immer mehr und immer künstlicher. Weil die Algorithmen lückenloses Grundrauschen fordern und die Social-Media-Strategen dies in hoher Intensität befeuern (das ist schließlich ihr Geschäftsmodell), schlägt die Stunde der KI. Social Media wird zu Synthetic Media, weil immer mehr Texte, Videos, Fotos und Audios mit KI-Technologien erzeugt oder verfremdet werden. Was ist wahr, was ist gelogen, was wurde in einen völlig irreführenden Kontext gestellt? Schaut überhaupt noch jemand hin, bevor das System postet und mit vorgefertigten Reaktionsmustern auf Kommentare antwortet? Inzwischen werden sogar komplette Influencer-Persönlichkeiten von der KI erstellt.
Es gibt gute Gründe, diesem befremdlichen Treiben zumindest zeitweise zu entsagen und mehr mit echten Menschen zu kommunizieren, statt mit einem anonymen Chatbot – und dabei bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit auf ein Display zu starren. Doch aus dieser Nummer kommen wir wohl nicht mehr raus. Wie so oft geht es darum, das Nützliche zu nutzen und den Rest wegzulassen. Und genau zu prüfen, wie viel austauschbare Bedeutungslosigkeit wir selbst beisteuern. Ob wir eigentlich nur noch senden oder Inhalte auch mal in Ruhe wirken lassen und ehrlich kommentieren, anstatt Likes und Emojis im Vorbeihuschen zu verteilen.
Social Media ohne Publikum, das die Inhalte auch wirklich wahrnimmt, ist ein schlechter Witz. Und ein teurer dazu: Marketingbudgets lassen sich effektiver einsetzen als mit uniformen, austauschbaren Inhalten aus der Massenproduktion. Losgröße 1 wäre also auch auf Social Media wünschenswert. Oder, wie es einer der Interviewpartner in dieser Ausgabe formuliert: Damit Inhalte auf Social-Media-Kanälen bei den Menschen ankommen, braucht es individuelle Qualität. Oder noch kürzer gesagt: menschliche Authentizität. Die kommt nie aus der Mode und funktioniert online wie offline ohne KI.
Dirk Biermann
Chefredakteur KÜCHENPLANER print & digital
Dieser Beitrag ist als Editorial in der Ausgabe KÜCHENPLANER 9/24 erschienen.