bulthaup: Präsenz statt Purismus
Sie sind ein ungleiches Paar, die Marke bulthaup und ihr Geschäftsführer Marc Eckert. Dabei sind beide, metaphorisch gesehen, sogar aus dem gleichen Holz geschnitzt: Martin Bulthaup, Eckerts Großvater, gründete das bis heute familiengeführte Unternehmen bereits 1949. Weltweit wird der Küchenhersteller als deutsche Luxusmarke verkauft, dabei kann Eckert, das macht er wiederholt in Interviews klar, mit dem Begriff so gar nichts anfangen.
Überhaupt: „Eigentlich gibt es keinen Menschen, der weiter weg von der Küche ist als ich“, sagt der studierte Jurist. Erst vor rund 14 Jahren übernimmt er in dritter Generation die alleinige Geschäftsleitung bei bulthaup, um das zeitweise konjunkturschwache Küchengeschäft zurück in Familienhand zu holen. Seitdem tüftelt er an einem neuen Verständnis von Küche – und das übersteigt, wie sich nun auf der Mailänder Küchenmesse zeigt, selbst die kühnsten Vorstellungen bisheriger bulthaup-Kenner.
bulthaup jetzt und früher
Was die Marke bislang definierte, ist eine minimalistische, fast schon asketische Aura. Das gilt nicht nur für ihre Küchenmöbel, die sich mit geradlinigem, häufig grifflosem Fugenbild und unauffälliger Schönheit in moderne Wohnambiente einfügen und dabei Anspruch auf höchste Materialqualität erheben. Auch kommunikativ gibt sich bulthaup seit jeher verschlossen. Im Gegensatz zu anderen Produzenten ist das Unternehmen selten auf Messen vertreten; alle paar Jahre streut die Marke eine Handvoll Neuheiten in ihr Händlernetz ein: Das modulare Möbelsystem „bulthaup b solitaire“ beispielsweise, geformt aus massiven Eichenholzlamellen und satiniertem Edelstahl, das mit seinem fast schon archaischen Werkstattcharakter bereits 2018 einen Vorgeschmack auf das neue bulthaup-Leitbild geben sollte – nur, dass das vor rund sechs Jahren eben noch keiner ahnen konnte.
Nun also, gewissermaßen, ein Neuanfang. Das kündigte sich, in bester bulthaup-Manier, äußerst geheimnisvoll an: „There is no kitchen“ titelte der Hersteller auf seiner Einladung zur Mailänder Möbelmesse 2024. Empfangen wurden Händler und Architektinnen, Interessentinnen und Wegbegleiter im Herzen des Designviertels Brera, plakativ inszeniert inmitten der „Pinacoteca di Brera“. Ein lichtdurchfluteter Pavillon, gesäumt vom Säulengang der barocken Kunstsammlung, beherbergt die Kehrtwende von dem, was bulthaup in den vergangenen Jahrzehnten ausgemacht hat. Dabei überlässt die Marke nichts dem Zufall: Der japanische Vorhangs-Saum aus graumeliertem Stoff, der die Neuheiten vor den Blicken der Außenstehenden verhüllt, endet auf einer Höhe von 45 Zentimetern. Es ist die Sockelhöhe des quadratischen Kochkubus, der das zentrale Herzstück der neuen Kollektion sein wird.
Comeback der Küchenwerkbank
Was anschließend folgt, gleicht einer Dekonstruktion der bisherigen bulthaup’schen Küchenwelt. Nachdem das Modell der b1 bereits 2023 vom Markt genommen wurde, wird es auch die b3 in ihrer jetzigen Form künftig nicht mehr geben. Stattdessen belebt das Unternehmen ein funktionales Archivstück wieder, die sogenannte „Küchenwerkbank“ (KWB) von 1988. Das einst mit Gestalter Otl Aicher ins Leben gerufene Modul gilt als Inbegriff der funktionalen Küche. Eine robuste Edelstahlplatte dient als Ausgangspunkt für alle Tätigkeiten entlang der Kücheninsel; Spüle, Schubladen, Speisenbehälter und selbst die Armatur sind darin eingeschweißt und erzeugt einen beeindruckend ganzheitlichen Charakter. Der Nachbau hält sich stark ans Original; einzig der Edelstahl wird nun mit einem feinen Glasperlenstrahl überzogen und ist dadurch ungleich kratzfester.
Nicht minder gewaltig ist die Erscheinung des neuen Massivholzschranks, der als Geräte- und Stauraum dient und einen doppelflügeligen Apothekerschrank beherbergt. Gut sichtbar ist die offene Zinkung am Kopf des Werkstücks; sie unterstreicht die aufwändige Handarbeit, mit der jedes Küchenelement bei bulthaup final veredelt wird. Und sie ist Zeuge des ungeheuerlichen Gewichts von rund 630 Kilogramm, die der Werkschrank auf die Waage bringt.
Alles in Eigenregie
Auch, wenn sich zu diesem Zeitpunkt bereits leise zweifeln lässt, welches moderne Wohngebäude diese Möbellast zu tragen vermag, so ist bulthaup die umtriebige Innovationskraft seines Messeauftritts nicht abzusprechen. Bis ins kleinste Detail hat sich der Hersteller in gewohnter Manier in seine neue Attitüde vertieft; selbst die soliden Stahlhaken entlang der Lochplatte im Inneren des Apothekerschranks stammen aus eigener Fertigung. Vor rund zehn Monaten hat sich das Unternehmen dazu die entsprechende Expertise ins Haus geholt. An das regionale Stammwerk in Aich bei Bodenkirchen schließt sich nun eine Stahl- und Aluminiummanufaktur an. „Wir wollen die Wertschöpfung bei uns im Haus haben“, erklärt die Marke dazu. Auch Beschläge und Scharniere werden hier produziert, ebenso wie eine gänzlich neue Produktkategorie: bulthaup stellt ab sofort eigene Kochfelder her, sowohl für Gas als auch für Induktion. „Wir sind Küche“, resümiert Marc Eckert.
Das wagemutige Statement geht einher mit einem kraftvollen Auftritt, der bulthaup in ein bis dato unbekanntes Licht rückt: vom stillen Ästheten zum selbstbewussten Macher. Das verleiht auch den bislang glattpolierten Oberflächen und stummen Möbelelementen ein präsentes Image, mit dem sich die Marke deutlich von seinem bisherigen Sortiment – und seinen Mitbewerbern – abhebt. Anstelle der jahrelang gelebten Nomenklatur von b1, b2 und b3 soll nun „eine einzige Schublade“ treten, aus der sich Planende und Käuferschaft „wie aus einem Lego-Baukasten“ bedienen können. Dazu stehen ihnen neben Edelstahl und Aluminium auch fünf Massivhölzer zur Verfügung. Eiche und Nussbaum werden künftig von Kiefer, Kirsche und Esche in verschiedenen Ausführungen ergänzt; mal gebürstet, mal glatt, mal als Strukturoberfläche. Ein neuer „Silk-Lack“ ist vorerst in acht Farben erhältlich, darunter ein auffälliges Enzianblau. Zukünftig soll die komplette NCS-Palette zur individuellen Farbgestaltung verfügbar sein.
180 Grad-Wende
Ähnlich unkonventionell mutet die neue Wandschrankgestaltung an, die bulthaup für Küche und „Living“ gleichermaßen im Blick hat: Eine doppelte Wandfront ermöglicht polygonale Ausschnitte mit Tiefenhaptik, in denen Kochgeschirr, Licht oder Deko-Objekte platziert werden können. Alles, was sich an diesem Tag im bulthaup-Pavillon in der Pinacoteca di Brera erspähen lässt, wird von der Marke produziert und ausgesteuert. Das gilt selbst für die kupferfarbenen Kochtöpfe und Pfannen, die gemeinsam mit dem französischen Label Mauviel gestaltet wurden, oder für das japanische Messerset mit einem Griff aus Mooreiche.
Am „Küchenarbeitstisch“ in massiv geölter Kiefer, deren erwartbare Patina aus Flecken, Öl und Alltagsspuren bewusst in Kauf genommen wird, lässt sich sogar auf selbstentworfenen Stühlen Platz nehmen. Die Sitzschale „Kyoto“ kann mit Stoff oder Leder bezogen werden, wie es bulthaup-Kundinnen und -Kunden bereits von der Solitaire-Möbelkollektion kennen dürften.
So imposant wie irritierend
Die 180 Grad-Wende, die die Luxusmarke mit ihrem neuen Auftritt hinlegt, ist so imposant wie irritierend. Während ein neues Wandsystem (Arbeitstitel: Butterfly) eine deutlich flexiblere Montage von wandgebundenen Modulen in unterschiedlicher Höhe und Breite ermöglicht oder der Kücheninselblock mit doppelseitiger Ausziehfunktion beeindruckt, dürfte das Abrücken des Unternehmens von griffloser Raffinesse und minimalistischer Lautlosigkeit nicht jedem schmecken.
Über die „Enkelfähigkeit“ seines Unternehmens und das „Herzblut“, das bei bulthaup in jedes Detail der Küchenplanung einfließt, hat Geschäftsführer Marc Eckert nun jüngst ein Buch veröffentlicht. Es ist ein Versuch, die Öffentlichkeit in jenen Denkprozess einzubeziehen, der zum jahrelangen Transformationsprozess der Marke geführt hat – und durch den sich Eckert selbst der eigenen Produktphilosophie entscheidend anzunähern scheint. Das Umdenken des Unternehmens wurde übrigens im Vorhinein subtil angekündigt: Das Akronym des Messemottos „There is no kitchen“ lautet THINK.
Susanne Maerzke