Design ist wie Medizin
Ausgangspunkt des inhaltsreichen Reisetages, der eine Busladung Journalistinnen und Journalisten durch ausgewählte Ausstellungen der Küchenbranche führte, war die These, dass wir „Produkte unserer Umwelt sind‟. So formulierte es kürzlich die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Emily Anthes. Sie hat darüber sogar ein Buch mit dem prägnanten Titel „Drinnen“ geschrieben. „Als mir dieses Buch in die Hände fiel, wusste ich, dass wir unser Thema für die Tour hatten“, erzählt Harald Klüh, „denn das, was Emily Anthes beschreibt, beschäftigt uns bei Grass schon lange.‟ In ihrem Buch beschreibt die Autorin, wie Innenräume die Gesundheit auf weitreichende und manchmal überraschende Weise beeinflussen. „Gutes Design kann eine wirksame Medizin sein“, lautet eine weitere ihrer Kernthesen. Das Neue an ihrem Buch sei, resümiert Klüh, „dass sie das Thema auf den privaten Bereich ausweitet, der in der europäischen Diskussion um Wohngesundheit bisher eine untergeordnete Rolle spielt“.
Mehr als nur Ästhetik
Dabei ist längst bekannt, dass das Wohnen einen großen Einfluss auf die Psyche hat: Fühlt sich der Mensch in den eigenen vier Wänden wohl und geborgen, fördert das die Gesundheit. Dabei geht es nicht nur um Ästhetik oder Komfort. Es geht um die Größe der Räume, um Ordnungssysteme, um den roten Faden in der Einrichtung. Design ist viel mehr als Ästhetik", sagt Harald Klüh. Aber auch die spielt eine Rolle: Sich mit schönen Dingen zu umgeben, hat nicht nur einen positiven Einfluss auf das seelische Wohlbefinden, sondern auch auf die körperliche Gesundheit. Ein Beispiel ist die Farbenlehre. „Schon Goethe erkannte, dass Farben eine psychologische Wirkung auf den Menschen haben. Seine Farbenlehre erschien 1810. Jetzt, mehr als 200 Jahre später, beginnen wir, weitere Aspekte zu diskutieren, die das persönliche Wohlbefinden beeinflussen, und ich bin gespannt, welche spannenden Erkenntnisse die nächsten Jahre bringen werden.“
Antworten und neue Fragen
Wie sieht es mit der Gestaltung von Wohnräumen aus? Mit dem Design von Küchen- und Wohnmöbeln? Mit den Dingen, die den Menschen täglich umgeben? Bei der „Grass Guided Press Tour“ führte Harald Klüh in das Thema ein und gab den Rahmen vor. Der visionäre Marken- und Designliebhaber erhielt in diesem Jahr fachkundige Verstärkung von Barbara Busse (Future+You) und Katrin de Louw (Trendfilter; Colornetwork). Die beiden Fachfrauen verbindet ihre Expertise für Trends, Interior Design und Nachhaltigkeit. Sie griffen Klühs Gedanken auf und führten sie weiter, gaben Antworten oder stellten neue Fragen.
Auf der Suche nach Stabilität
Barbara Busse ist Gründerin von Future+You, einer weltweit tätigen Foresight- und Designagentur aus Ostwestfalen (mit Sitz in Petershagen). Als Expertin für Consumer- und Designtrends und Innovationspartnerin der diesjährigen area30 begleitet sie Unternehmen der Branche in die Zukunft – und gab den Medienschaffenden auf der Tour ihre Einschätzung zum Thema. So sagte sie: Wir leben in einer Zeit, die von Polykrisen geprägt ist. Unser Zuhause bietet in dieser Zeit durch seine Gestaltung mentale Stabilität und ein Gefühl der Sicherheit. „Immersive Escapism“ nennt sie diesen Trend.
Laut Busse suchen wir Trost und Sicherheit, indem wir in Einrichtungselemente, Mode und Ernährung anderer Jahrzehnte eintauchen, die damals gefühlt mehr Stabilität boten, oder indem wir uns mit der Zukunft beschäftigen, die uns (ebenfalls gefühlt) neue Freiheiten verspricht. Diese Entwicklung habe mit Corona begonnen, in der das Zuhause enorm an Bedeutung gewonnen habe. Diese Entwicklung habe sich durch neue Krisen verstärkt und dazu geführt, dass wir heute wissen, dass unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit nicht mehr nur von schadstofffreien Innenräumen abhängen, sondern auch davon, „wie gut wir dort abschalten und uns zurückziehen können“.
Zwischen Nostalgie und Eco-Futurismus
Wie sich diese Gedanken in Trends auswirkt, sei höchst individuell. Doch zwei Pole hat Barbara Busse ausgemacht: Zum einen sei es die Nostalgie, die ein Gefühl der Vertrautheit und Wärme vermittelt. Der andere Pol, den gerade junge Gestalterinnen und Gestalter für sich erschließen und der Messen wie jüngst in Mailand oder Eindhoven dominierte, sei der Eco-Futurismus: „Der konsequente Einsatz nachhaltiger und zirkulärer Materialien in Verbindung mit künstlichen Farben, computergenerierten Formen und Architekturen.‟
Ein neuer Trend kreiert sich: „Dreamscape“. Er beinhaltet die Abkehr von den Stilwelten der Elterngeneration und die Flucht aus der belasteten Gegenwart in vermeintlich bessere Zustände der Vergangenheit und Zukunft. Damit sei „Dreamscape“ auch eine Reaktion auf die Krisenszenarien der Klimaveränderungen. Was in seinen diversen Wirkungen auch gestalterisches Neuland öffnet. Gefragt sind zirkuläre Materialien, die frei von Schadstoffen und gut für das Klima sind.
Sind die Hersteller bereit für Psychologie?
Neue Trends setzen sich oft mit Verzögerung durch. Das hat vor einigen Jahren das Urban Gardening gezeigt. Anfangs als Spinnerei einiger Lifestyle-Nerds belächelt, wollte plötzlich jeder Tomaten und Gurken auf dem Balkon anbauen. Beim Thema Wohngesundheit ist Harald Klüh überzeugt, „dass es nicht mehr allzu lange dauern wird“, bis es in den Angeboten der Industrie und damit in unseren Wohnungen ankommt. „Wenn man sich erst einmal mit der gesundheitlichen Wirkung des Wohnens beschäftigt hat, wird sich der Stellenwert von Innenarchitektur, Licht, Möbeln, Küchen - und auch unseres Bewegungsdesigns - verändern.“ Womit auch die Produkte von Grass angesprochen waren. Diese standen zwar nicht im Mittelpunkt der Pressetour, bekamen aber bei passender Gelegenheit ihren Platz.
Die gelebte Praxis
In den besuchten Ausstellungen von SieMatic, LEICHT, Schock, Häcker und Rotpunkt Küchen war das Thema Wohngesundheit unterschiedlich präsent. Umgesetzt mit einer großen Bandbreite von recyclingfähigen und/oder besonders schadstoffarmen Materialien bis hin zur kreativen Freude an Produkten, Einrichtungsdesigns und Raumgestaltung, die sich, wie gelernt, positiv oder negativ auf die Bewohner auswirken können. Die „Grass Guided Press Tour“ hat das große Thema ein Stück weit handhabbarer gemacht. Auserzählt ist es damit aber noch lange nicht. Allein Moderator Harald Klüh hat viele weitere Gedanken dazu. Die einen beflügeln ihn, die anderen deprimieren ihn angesichts der Einrichtungsrealität und dessen, was die Industrie Jahr für Jahr an austauschbarer Masse auf den Markt wirft. Aber er scheint auch Optimist zu sein. Sein offizielles Fazit klingt trotz aller Kritik am Status quo zuversichtlich: „Ich finde es faszinierend, wie unterschiedlich und vielfältig unsere Partner an das Thema herangehen. Und genau das ist der Schlüssel: die Menschen so zu nehmen, wie sie sind, und sie so leben zu lassen, wie sie wollen, also nachhaltige Vielfalt zu bieten.“ Damit sei ein großer Schritt in Richtung gesundheitsförderliches Wohnen getan.
Dirk Biermann