Seenot im Mehr der Möglichkeiten
„Guten Tag, mein Name ist Pia Persönlich, ich interessiere mich für eine Küche.“ Für Küchenhändler Klaus K. stand sofort fest: Dieses Gespräch wird anders laufen als gewohnt. Schon als die Kundin durch die Studiotür rauschte, wähnte er eine Art sphärischen Trommelwirbel zu vernehmen. „Ein heller Grundton soll es sein“, fährt Pia Persönlich fort und schleudert sich ihre auberginefarbene Stola über die Schulter. „Am besten Sie zeigen mir mal Ihre verschiedenen Weiß-Töne. Vielleicht mit einer Nuance Grau. Und welche Kontrastfarben Sie dazu anbieten. Vielleicht ein frisches Grün, oder ein warmes Safran? Apropos Wärme: Holz und Farbe, oder Holz und Weiß – das interessiert mich sehr. In Eiche – oder lieber Nussbaum? Hm. Aber nicht alles so schnurgerade geplant. Ich mag ja sanft gerundete Formen, das hat so etwas Lebendiges. Haben Sie auch Tische und Schränke, die sich in der Höhe verstellen lassen? Wissen Sie: der Rücken. Ich sag Ihnen. Man wird nicht jünger. Womit ich schon bei der Spüle wäre. Und überhaupt – Geräte: Ganz wichtig. Beim Backofen finde ich diese neue Touch-Bedienung wie bei meinem Telefon toll, aber beim Kochfeld will ich Knebel. Immer diese Schmiererei mit den fettigen Fingern auf der Glaskeramik. Unpraktisch ist das, ganz unpraktisch. Aber wem erzähle ich das – Sie sind ja der Fachmann.“
Dessen war sich Klaus K. in diesem Moment nicht mehr ganz so sicher. Keine zwei Minuten hatte Pia P. für ihren Eröffnungsstakkato gebraucht, und ihm rauschte der Kopf wie sonst nach drei Stunden Abendunterhaltung via RTL. Ganz anders als mit Bernd Billig am Tag zuvor. „Küche, hell oder dunkel, so wie im Prospekt“, lautete das klar formulierte Anliegen. „Inklusive Aufmaß vor Ort, Montage, Entsorgung des alten Mobiliars, geschenktem Geschirrspüler und Basic-Geräteeinführung. Und keinen Cent mehr als die angekündigten 2999.“ Das ist zwar langweilig und preisruinös, aber für den Moment vergleichsweise unanstrengend.
Diese Szenen sind überspitzt, aber sie geben einen Vorgeschmack auf das, was im Handel künftig noch verbreiteter stattfinden könnte. Dabei geht es nicht allein um die seit Jahren prophezeite Marktspreizung in Discount und Premium bei angeblichem Verlust der Mitte. Also um ein Szenario, dass ganze Kundengruppen separiert. Es sind vielmehr die neuen Gesichter von Max Mustermann und Gattin Erika. Ein und derselbe Mensch pocht bei Themen, die ihm am Herzen liegen, immer stärker auf ausgefeilte Eigenständigkeit, und starrt stoisch auf den Preis, wenn die Materie notwendig aber emotional unwichtig erscheint.
Der moderne Mensch ist der Individualität verpflichtet. Soziale Netzwerke sind die Bühne, davor sitzen Abermillionen Kritiker. Und die/wir sind scharf wie eine Pizza Vesuvio beim Gastronom um die Ecke – immer bereit, den „Gefällt mir“-Button NICHT zu drücken, um Ablehnung zu dokumentieren. Nach „Ich denke, also bin ich“ und „Ich habe, also bin ich“, lautet das Lebenscredo anno 2013: „Ich stelle dar und werde damit wahrgenommen – also bin ich“.
Die Industrie hat dies längst erkannt und versorgt Kunden en masse mit Möglichkeiten, ihre Persönlichkeit über den Konsum zu definieren. Individualität wohin das Auge blickt – auch auf der LivingKitchen zeigte sich dieser Megatrend. Wer mag, darf sich selbst sein neues Elektrogerät aus mehreren optischen und funktionalen Varianten zusammenstellen. „Entdecke die Möglichkeiten“ – Ikea hat scheinbar schon länger gewusst, was da auf uns zukommt.
Fragt sich nur: Wer soll das konkret umsetzen? Der normale Kunde ist mit der Vielzahl der Möglichkeiten beim Küchenkauf ohnehin schnell überfordert. Wer als Hersteller nun kreativ zusammenstellbare Produkte auf den Markt bringt, jedoch glaubt, damit jeden Vertriebskanal gleichrangig bestücken zu können, schwebt in der Gefahr des Scheiterns. Der Megatrend Individualität braucht mehr denn je fachkundige Lotsen, damit die Mustermanns, alias Pia Persönlich und Bernd Billig, beim Küchenkauf nicht im Mehr der Möglichkeiten in Seenot geraten – und aus verwirrtem Trotz doch erst mal Urlaub in der Südsee buchen.
Steht der Fachhandel vor einer neuen glanzvollen Ära? Sicher nicht pauschal: Dafür braucht es Planer und Händler, die sich positionieren wollen und mit den persönlichkeitsbildenden Konsumwünschen ihrer Kunden umgehen können. Fachlich ausgebildet und mit menschlicher Authentizität. Und es braucht eine Industrie, die die Kommunikation mit dem Fachhandel pflegt und ausbaut, anstatt übermotiviert die Chancen der Online-Vermarktung zu glorifizieren und alles „Alte“ zu vernachlässigen.
Küchen bestehen aus Möbeln, Geräten und Zubehör. Im Idealfall sind diese Zutaten für Räume und Menschen maßgeschneidert. Dahinter stehen Fachkunde und Kreativität. Im Internet werden diese Faktoren nicht verkauft, austauschbare Massenware zu kaum renditefähigen Billigstpreisen schon, meint
Dirk Biermann, Chefredakteur
d.biermann@kuechenplaner-magazin.de
PS: Der Megatrend Individualität war eines der zehn Top-Themen der LivingKitchen. Über die übrigen neun Themen und alle weiteren wichtigen Produkt- und Vermarktungsideen von der Messe berichten wir ausführlich in dieser Ausgabe – und im Internet auf www.kuechenplaner-magazin.de.