Strom in der Schublade
Die interessantesten Geschichten beginnen oft an ungewöhnlichen Orten. In diesem Fall in einer Alpenhütte. Siegfried Schulte, Gründer des Unternehmens Schulte Elektrotechnik aus Lüdenscheid, ist in einem Sommer Anfang der 1980er Jahre auf einer Bergtour unterwegs. Zum Kopf freikriegen, wie er sagt. In besagter Hütte kehrt er zur Rast ein und trifft dort auf den Computerpionier Heinz Nixdorf aus Paderborn. Die beiden Elektronikexperten kommen zur Brotzeit ins Gespräch. Siegfried Schulte berichtet von innovativen Schutzschaltern, mit denen sich das Unternehmen seinerzeit beschäftigt und auch von seinen neuesten Plänen, Strom- und Datenanschlüsse im Büro zu modularen Systemlösungen weiterzuentwickeln. Nixdorf habe aufmerksam zugehört, erzählt Siegfried Schulte, und trocken geantwortet: „Das wird eine Evolution.“ Die beiden Elektronikspezialisten verabschieden sich und gehen ihrer Wege. In Siegfried Schulte arbeitet es. Bis die Idee klar ist: „Ich nenne die neue Marke EVOline.“ EVO für Evolution und line für Leitung.
Premiere bei Wellmann
Inzwischen ist die Unternehmensmarke EVOline weit über die Grenzen von Lüdenscheid im Sauerland bekannt und auch international ein Begriff. Besonders wenn es darum geht, Anschlüsse für Strom und Datenfluss sicher und praktikabel in ein Möbelstück zu integrieren. Nach den ersten erfolgreichen Umsetzungen der modularen Energieverteilung in Schreibtischen und Aktenschränken wendete sich der Hersteller ab Ende der 1990er-Jahre der Küche zu. Einer der Gesprächspartner hieß Hans-Dieter Wellmann, ein Vollblutunternehmer, der für gute Ideen stets zu haben war, und der Chancen erkannte, wenn sich ihm diese boten. Zur Hausmesse 2002, also vor genau 20 Jahren, wurde im Wellmann’schen Messezentrum in Hiddenhausen der „EVOline Port“ präsentiert: eine versenkbare Steckdosenleiste, die mittels patentierten Kippdeckels aus der Arbeitsfläche gezogen wird. Wenn die Leiste nicht gebraucht wird, verschwindet sie wieder nach unten und damit aus dem Sicht- und Arbeitsfeld. Die Idee war neu und kam in Handel und Industrie sehr gut an. Weitere Küchenmöbelhersteller und auch der Zubehörgroßhandel interessierten sich dafür, berichtet Marek Wyderka. Er kennt die Entwicklung aus erster Hand, denn er ist seit 30 Jahren im Unternehmen und gestaltete die Anfänge in der Küche von Beginn an mit. Heute ist Marek Wyderka Key-Account-Manager „Küche“. Zu seinen Gesprächspartnern zählen alle großen Küchenmöbelhersteller in Deutschland und die führenden Zubehörgroßhändler.
Nur 53 mm Einbautiefe
Der versenkbare „Port“ (sowie die später folgende Abwandlung „V-Port“ für den Oberschrank) war der Anfang einer steilen Küchenkarriere. Es folgten weitere Meilensteine in der Elektrifizierung von Möbeln im Küchenumfeld. Zum Beispiel der Flachstecker „Plug“, das Steckdosenelement „Square 80“ mit induktiver Ladeoberfläche für Smartphones sowie „BackFlip“, eine Art Steckereinheit samt USB-Charger mit Wendefunktion. Im geschlossenen Zustand ist vom „BackFlip“ nur eine dünne Platte auf der Küchenarbeitsfläche zu sehen. Das System ist wassergeschützt konstruiert, so dass nichts in die elektrischen Systeme eindringen kann. Mit einem Finger angetippt, dreht sich das Bauteil und präsentiert seine Funktion. Die zwei Steckdosen und der erwähnte USB-Charger liegen so hoch über der Arbeitsfläche, dass sie auch im geöffneten Zustand „vor dem Eindringen von Wasser geschützt sind“, wie Geschäftsführer Steffen Waldminghaus erläutert. Der besondere Clou: „Die geringe Einbautiefe von nur 53 mm ermöglicht eine Montage über Schubladen oder fest installierten Küchengeräten.“
Ein Modul, viele Umsetzungen
Heute bietet EVOline Elektrifizierungslösungen für Möbel in Büros, Küchen, Wohnräumen, Hotels, Schulen, Flughäfen, Warteräumen und im Ladenbau. Immer häufiger werden Sofas und Sitzmöbel auf diese Weise elektrifiziert, und auch das Homeoffice gewinnt an Bedeutung. Alle EVOline-Produkte folgen einem modularen Ansatz. Sprich: Ein identisches Bauteil lässt sich kundenindividuell mit Steckersystemen jeder Art bestücken. Je nach inhaltlichen Anforderungen an Strom- und Datenversorgung. Und je nach Einsatzgebiet. So beliefert das Unternehmen Abnehmer in der Küchenindustrie proaktiv für jedes Exportland mit den passenden nationalen Steckdosen und den jeweils notwendigen Betriebsgenehmigungen. Damit die Technik auch international stets kompatibel ist und der Küchenmöbelhersteller möglichst wenig zusätzlichen Aufwand hat. Für Gründer Siegfried Schulte sind Kunden im besten Fall enge Partner. Dafür geht er gern in Vorleistung.
Am besten unsichtbar
Einer der aktuellen Trends in der Küche sieht die Technik gern im Hintergrund. Auch Steckdosen sollten am besten unsichtbar sein. Also ab mit der Anschlusstechnik in die Schubladen? Dort lassen sich schließlich auch kabellose Kleingeräte unbemerkt aufladen. „Die Idee der Steckdose im Auszug ist nicht neu“, bestätigt Marek Wyderka, doch die Umsetzung sei anspruchsvoll. Vor allem die Kabelführung. Damit die Anschlussleitungen die ständigen Bewegungen der Lade mitmachen, ohne Schaden zu nehmen, hat EVOline die Kabelführung „Wing“ entwickelt. Die Premiere auf der SICAM im Oktober 2021 sei ein großer Erfolg gewesen. Namhafte Küchenmöbelhersteller schauten sich die Innovation interessiert an und schickten das Bauteil umgehend in die hauseigenen Prüflabore. Dort hatte der „EVOline Wing“ in einem Fall 80.000 Wechsel im Dauertestlauf zu bewältigen. Testurteil: sehr gut. „Zur Küchenmeile im September wird das Produkt bei vielen Küchenmöbelherstellern zu sehen sein“, kündigt Geschäftsführer Steffen Waldminghaus an. Inzwischen sei der „Wing“ patentrechtlich geschützt. Mit welchem Steckdosenelement die Gesamtlösung umgesetzt werde, bleibe Entscheidung des jeweiligen Möbelherstellers. Passende Halterungen für alle wichtigen Schubkastensysteme von Blum, Hettich oder Grass sind jedenfalls im Sortiment.
Kein Design ohne Funktion
Das erwähnte modulare Prinzip prägt jede Entwicklung des Lüdenscheider Unternehmens. Kundenspezifische Lösungen sind ebenfalls Strategie, verbunden mit dem Anspruch, „Alleinstellungsmerkmale für uns und unsere Kunden zu schaffen“, wie Siegfried Schulte es ausdrückt. Hinzu kommt grundlegend der besondere Stellenwert der Kombination von Funktion und Design. „Design follows function“ bedeutet, dass jede Gestaltung stets einen funktionalen Nutzen haben muss. Design ohne Funktion gibt es bei EVOline nicht. Wenn renommierte Designpreise hinzukommen, wie so oft, umso besser. Evolution kennt schließlich viele Perspektiven.
Dirk Biermann
Ein Unternehmer mit Visionskraft
Siegfried Schulte, Jahrgang 1934, gründete das Unternehmen „Schulte Elektrotechnik“ 1964 in Lüdenscheid. Spezialschalter für die Industrie standen damals im Mittelpunkt. Und die Vision, Elektrik sicherer und intelligenter zu machen. „Ein elektrischer Fehler darf keine Kettenreaktion auslösen“, lautete sein Credo. Geprägt wird sein Lebenswerk von der dezentralen Entwicklung elektrischer Prozesse. Für die Erfindung des ersten, sich selbst kontrollierenden Fehlerstromschutzschalters für die dezentrale Anwendung wurde ihm 1997 die Rudolf-Diesel-Medaille in Gold verliehen: vom damaligen Bundesratspräsidenten Johannes Rau. Eine weitere bahnbrechende Erfindung Schultes war auch der Lenkstockschalter, der im Automobil alle Schaltungen vom Blinker bis zum Licht am Lenkrad bündelt. Diese patentierte Neuheit (eine von rund 300 Patenten, die Schulte Elektrotechnik hält) wurde später gewinnbringend an einen großen Automobilzulieferer verkauft. Was der weiteren Entwicklung des Unternehmens und der Marke „EVOline®“ eine hilfreiche Kapitalbasis verschaffte.
Auch im Alter von 88 Jahren ist Siegfried Schulte engagiert in seinem Unternehmen aktiv und dabei als Ideengeber und Mehrheitsgesellschafter präsent wie eh. Wenngleich die operative Verantwortung Steffen Waldminghaus übernommen hat. Als Geschäftsführer und CEO ist er mittlerweile zudem am Unternehmen beteiligt.
Hohe Fertigungstiefe
Aktuell beschäftigt das Unternehmen an zwei Standorten in Lüdenscheid/Sauerland rund 250 Mitarbeitende und erwirtschaftet etwa 25 Millionen Euro Jahresumsatz. Das traditionelle Schaltergeschäft steuert ca. 10% zum Gesamtumsatz bei, 90% gehen auf das Konto von Steckdosen-Systemen zur Elektrifizierung von Möbeln, hauptsächlich in Küchen und Büros.
Am Stammsitz in Werk 1 sind neben Verwaltung, Showroom und Konstruktion die Bereiche Montage, Prüfung und Versand angesiedelt. Im Werk 2 der Wareneingang (Rohstoffe und Zukaufprodukte), das Materiallager und die Fertigung der Kunststoffteile sowie der Werkzeugbau. Errichtet und in Betrieb genommen wurde dieses Gebäude 2020 mit höchsten Ansprüchen an die Energieeffizienz, u.a. mit einer umfangreichen Photovoltaikanlage auf dem Dach sowie einer modernen Wärmerückgewinnung. So kann das Bauwerk im Winter wärmeautark und im Sommer gekühlt betrieben werden. Bereits bei der Erweiterung des Stammsitzes an der Jüngerstraße im Jahr 2014 legte Siegfried Schulte großen Wert auf nachhaltige technische Lösungen und war damit der Zeit weit voraus. Unter anderem durch die Nutzung von Geothermie, für die 10 Bohrungen bis in 100 Meter Tiefe realisiert wurden.
Die Produktion von Schulte Elektrotechnik basiert auf einem hohen Eigenanteil inklusive Kunststoffspritzguss. Auch diese Fertigungstiefe war dafür verantwortlich, dass während der gesamten Pandemie-Zeit reibungslos in zwei Schichten durchgearbeitet werden konnte. Produziert wird auftragsbezogen („von Stückzahl 1 bis unendlich“) mit viel Handarbeit und in flexibler Inselfertigung. „Wir sind damit so anpassungsfähig, wie es unsere Produkte sind“, sagt Steffen Waldminghaus. (Dirk Biermann)