27.04.2023

Wohin man schaut Umsatzrekorde mit teils zweistelligen Zuwachsraten. Doch der Konfettiregen bleibt aus. Stattdessen hängen die Mundwinkel herab. Was läuft bloß schief? Das Editorial aus KÜCHENPLANER 3/4 2023.

Dirk Biermann, Chefredakteur KÜCHENPLANER online/offline.


Bilanzberichte fallen gewöhnlich mit der Tür ins Haus. Ohne Umschweife geht es um die Zahlen des Vorjahres und wie sich diese in den letzten 12 Monaten entwickelt haben. Die Industrie berichtet über Umsatz, Investitionen und Belegschaft, die Verbände zusätzlich über Mitglieder, Durchschnittspreise und Bonusausschüttungen. Wer kann, fügt was Soziales und etwas zur Nachhaltigkeit bei. In der Küchenbranche werden diese Berichte besonders gern verfasst, denn seit Jahren kennt die Entwicklung von Ausnahmen abgesehen nur eine Richtung: steil nach oben. Und darüber berichtet man zurecht gern.

In diesem Frühjahr ist es anders. Denn das Jahr 2022 war auf anstrengende Weise besonders. So ignoriert fast jeder aktuelle Bericht die ungeschriebene Regel „erst die Zahlen, dann die Hintergründe“ und beginnt mit einleitenden Schilderungen wie diesen: „Neben den Auswirkungen der Coronapandemie, die bereits im Vorjahr zu Störungen der weltweiten Lieferketten sowie zu sich verknappenden Rohstoffen geführt hatte, verschärfte der russische Angriffskrieg in der Ukraine die Rahmenbedingungen deutlich: Massiv steigende Preise beispielsweise für Energie und Nahrungsmittel, eine rasant zunehmende Inflation, die daraus resultierende Zinswende sowie der Absturz des Konsumklimas auf einen neuen historischen Tiefstand stellten Unternehmen aber auch Verbraucherinnen und Verbraucher vor neue Herausforderungen.“
Übersetzt heißt das: Industrie und Handel fuhren durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie bereits auf Felge und dann wurde es richtig kompliziert. Zwar nicht für alle gleich, aber für alle spürbar.

Eine dramatische Schilderung der Lage. Und keineswegs übertrieben. Viele gute Gründe für schlechte Nachrichten, möchte man meinen. Doch nicht in der Küchenbranche. In fast jedem Bilanzbericht folgte auf den atmosphärischen Lagebericht Ergänzungen wie „dennoch“, „trotzdem“ oder „ungeachtet“. Denn „trotz allem“ konnte der Umsatz allerorten deutlich gesteigert werden. Teils zweistellig.
Die Auflösung des Rätsels liegt bekanntlich in den unterjährigen Preisanpassungen. Viel Umsatz bedeutet derzeit nicht automatisch viel Ertrag. Manche Jubelmeldung über einen erneuten Umsatzanstieg könnte sich bei näherem Hinsehen sogar als Rückgang darstellen, weil die Erlöse nicht mit den Kosten mithielten. Doch so tief möchten viele Unternehmen nicht berichten. Wenn der Umsatz jedoch nicht mit Angaben zur Menge oder wertsteigernden Aspekten in Relation gesetzt wird, droht sich eine wichtige Unternehmenskennzahl auf ein Muster ohne Wert zu reduzieren. Unprofitabler Umsatz bleibt unprofitabel, auch wenn er zweistellig wächst.

Das in Schieflage geratene Kosten-Umsatz-Verhältnis allein ist aber nicht für die gegenwärtige Stimmungsambivalenz verantwortlich. In Summe war 2022 für die Küche sogar ein gutes Jahr. Trotz allem. Doch wie geht es 2023 weiter? Für die Männer und Frauen im Vertrieb gibt es kein (Umsatz-) Leben vor dem 1. Januar. Mit dem Jahreswechsel drehen die Uhren auf null. Deshalb zieht die Ungewissheit ob der weiteren Auswirkungen von Inflation, Investitionswandel und Konsumverzicht sowie der rückläufigen Bautätigkeit tiefe Furchen in die Gesichter und lässt die Mundwinkel der Schwerkraft folgen.

Dass der Blick nach vorn gerade keine Vorfreude auslöst, ist unbestritten. Ungeachtet dessen sollten die gemeisterten Herausforderungen nicht zu unreflektiert in den Hintergrund geraten. Industrie und Handel haben angesichts der extremen Rahmenbedingungen enormes geleistet. Im vergangenen Jahr und in den beiden zuvor. Drei Jahre Ausnahmezustand mit existenzieller Ungewissheit in der Anfangsphase der Pandemie und kaum zu erfüllenden Nachfragewünschen im weiteren Verlauf. Mit all den oben geschilderten und vielen weiteren zehrenden Begleiterscheinungen. Diese Leistung von Geschäftsleitungen und Belegschaft ist aller Ehren wert und muss erstmal verarbeitet werden. Ein Jahr der Konstanz wäre vor diesem Hintergrund ein großer Erfolg.

Dirk Biermann