24.04.2015

Der Hausbock hockt im Eichengebälk, der Schimmel blüht im Bad und die Bewohner wissen vor lauter Fußkälte nicht wohin. Das aktuelle Chateau des Grauens ist eine Ruine wie aus dem Bilderbuch, und selbst Laien erkennen, dass diese marode Hütte der Abrissbirne schon seit Jahren entgegenröchelt.

Dirk Biermann, Chefredakteur KÜCHENPLANER. Foto: Peter Ostermann

Wir ahnen es: Das ist ein Fall für das RTL-Team von „Einsatz in 4 Wänden“. Doch bevor Deko-Queen Tine ­Wittler grazil die Teelichter in die Kamera drehen darf, ist Muskelkraft gefragt. Der Schweiß fließt in Strömen, denn Wände wollen umgehauen, Berge von Müll entsorgt und Fenster ausgewechselt werden. Das Fachpersonal tischlert, fliest und pinselt im Akkord. Jede Menge Trockenbau sorgt dafür, dass der ambitionierte Zeitplan eingehalten werden kann. Obwohl es wie stets sehr knapp ist, sind Tine und die Teelichter rechtzeitig vor Ort. Und dann ist es wie Weihnachten: Die Hausbesitzer sind sprachlos, die Nachbarn jubeln, Tränen rollen und es wird viel gedrückt. Bei der Besichtigung der neuen Küche übernehmen die Emotionen vollends das Kommando: Erwachsene Menschen brechen gerührt zusammen und hangeln sich mit letzter Kraft an der Schichtstoffarbeitsfläche im Butcher-Block-Design entlang. „Oh, ist das schööööön.“ James Blunt wimmert aus dem Off.

Von der Pflicht zur Kür
Die allgegenwärtigen Koch-, Makler- und Renovierungs-Shows hieven die Küche zu besten Sendezeiten in die Wohnzimmer. Diese mediale Dauerberieselung ist nicht unbedingt jedermanns Sache, doch trägt das TV-Spektakel sicher dazu bei, dass sich die Beschäftigung mit einer neuen Kücheneinrichtung zunehmend von einer turnusmäßigen Pflichtaufgabe zum Lifestylevergnügen entwickelt. „Küche statt Benz“, titelte die renommierte WELT kürzlich sinngemäß und wollte damit ausdrücken, dass sich die Deutschen ihre Küchen immer mehr kosten lassen und dass sie immer häufiger lieber ins Küchengeschäft gehen statt ins Autohaus oder ins virtuelle Reisebüro. In Deutschland ist der Durchschnittspreis fürs Einbauensemble seit mehreren Jahren in Folge gestiegen. Das freut Hersteller und Handel.

Ganzheitlicher Blick
Auch auf der Jahrestagung des Branchenverbandes AMK fiel der Bericht „zur Lage“ positiv aus. Weil dort die Küche ganzheitlich gesehen wird, wie AMK-Vorstandssprecher Dr. Oliver Streit erinnerte. Großartig daran zu mäkeln hatte niemand. Fast niemand. Zwar hatten bereits Dr. Streit und dessen Vorstandskollege Werner Heilos klargestellt, dass die „erfreuliche Umsatzentwicklung“ vornehmlich den Geräteherstellern und Zubehörspezialisten geschuldet und der Aufbau weiterer Exportstrukturen dringend angeraten sei, doch erst VdDK-Hauptgeschäftsführer Dr. Lucas Heuman schüttete die entscheidende Prise Sand ins Harmoniegetriebe. Als es gerade eine Spur zu selbstzufrieden kuschelig zu werden drohte, enterte Dr. Heumann das Rednerpodium und teilte mit den AMK-Mitgliedern seine Einschätzung auf den Blick hinter die Kulissen der aktuellen Marktlage.

Strukturelle Probleme
Die Rahmenbedingungen seien zwar gut, doch gebe es „massive strukturelle Probleme“ in der Branche, monierte Dr. Heumann. Die amtlichen Statistiken zeigten, dass der Durchschnittspreis pro Küchenmöbelkommission im 2. Halbjahr erstmals wieder leicht gesunken sei, und dass die Einrichtungsbranche nur unterdurchschnittlich vom gegenwärtigen Konsumboom profitiere. Die Zahl der Baugenehmigungen sei zwar hoch, die der Wohnungsleerstände aber auch. 3,5 Millionen Häuser und Wohnung seien derzeit unbewohnt in Deutschland. Das führt in der Summe zu keinen weiteren Haushaltsneugründungen. Auch die historisch niedrigen Hypothekenzinsen beleuchten nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite stehen gleichfalls historisch hohe Baupreise. Und die führen immer häufiger dazu, dass die Bauherren bei den letzten Gewerken wie Zufahrt und Garten sparen müssen oder bei der neuen Einrichtung den Gürtel enger schnallen als geplant. Dann muss die alte Küche doch noch mal ran.
Das Fazit des VdDK-Hauptgeschäftsführers an die Adresse der Industrie lautete unmissverständlich: „Der Binnenmarkt ist toll und sollte gepflegt werden, aber er hat viele strukturelle Probleme. Wachstum findet in internationalen Märkten statt, dort spielt künftig die Musik. Wir brauchen eine noch stärkere Exportoffensive.“

Nicht für jeden Neuland
Die Ausführungen Dr. Heumanns sind schlüssig, und wenn die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mal wieder an Glanz verlieren, kann sich niemand darauf berufen, dass man das alles ja auch mal etwas früher hätte sagen können. Festgehalten werden muss aber auch, dass der forsche Blick über den Tellerrand des Heimatmarktes nicht für jeden in der Branche Neuland ist. Viele Geräte- und Zubehörproduzenten und vor allem die Schrankausstatter sind da fortgeschrittener unterwegs als manch einer der mittelständischen Küchenmöbelhersteller – dem Kernklientel des VdDK (Verband der Deutschen Küchenmöbelindustrie).

„Und“ statt „Aber“
Jedem „Auf“ folgt ein „Ab“. Das gilt natürlich auch für den heimischen Küchenmarkt. Denn Wirtschaft entwickelt sich niemals linear sondern stets wellenförmig – in unterschiedlich intensiven Kurven. Zu vehement wirkt deshalb das von Dr. Heumann betonte „Aber“ im Anschluss an die Feststellung „Der Binnenmarkt ist toll.“ Denn ein „Aber“ negiert den ersten Teil der Aussage. Angebrachter wäre an dieser Stelle ein schlichtes „Und“: „Der Binnenmarkt ist toll und sollte weiter gepflegt werden und er hat manche strukturelle Probleme, deshalb ist parallel eine noch stärkere Exportoffensive sinnvoll.“ Das ist inhaltlich eine ganz andere Aussage.

Längst nicht ausgeschöpft
Das Siegel „Made in Germany“ ist weltweit ein Türöffner, der von den Küchenmöbelherstellern genutzt werden sollte. Den Binnenmarkt in den Vertriebs- und Marketingstrategien deshalb zu vernachlässigen, ist eine ganz schlechte Idee. Dafür ist das Marktpotenzial hierzulande zu lukrativ und längst nicht ausgeschöpft. Noch immer geben sich zu viele Küchenkäufer mit der lustlos drapierten Mainstreamware für Einsteiger aus den Rabattprospekten der Großfläche zufrieden.
Der Küchenmarkt in Deutschland braucht weiterhin kreative und wertsteigernde Impulse, damit immer mehr Konsumenten die Küche als begehrenswertes Lifestyleobjekt sehen. Da ist allen strukturellen Problemen zum Trotz noch deutlich Luft nach oben. Den Blick ausschließlich in ferne Gefilde zu lenken, ist keine Lösung.
Für Hersteller, Verbände und Handel gilt: Raus aus der selbstzufriedenen Kuschelzone. Kunden ideenreich und lebendig vom „Lebensgefühl Küche“ zu überzeugen, ist keine Exklusivkompetenz von Ikea.
Der Küchenkauf sollte für Kunden stets wie Weihnachten sein. Sonst steht Tine Wittler mit ihren Teelichtern bald auf verlorenem Posten, meint


Dirk Biermann, Chefredakteur
d.biermann@kuechenplaner-magazin.de


Dieser Beitrag ist erschienen in KÜCHENPLANER, Ausgabe 3/4 2015.
Die gesamte Ausgabe gibt es auch als ePaper auf www.pressekatalog.de, Stichwortsuche Küchenplaner.