Den Blick fürs Ganze wahren
Die Zahlen für die letzten Monate des Jahres 2023 sind nicht gut. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (Destatis) lag die Summe der beantragten Regelinsolvenzen in Deutschland durchweg zweistellig über den Vergleichsmonaten des Vorjahres. Im Dezember waren es 12,3 Prozent, im November 18,8 Prozent und im Oktober 22,4 Prozent. „Insolvenzwelle erfasst Deutschland“, titeln einige Medien und sehen dies als weiteren Beweis für die desaströse Lage. Doch wie sind diese Zahlen einzuordnen?
Um die aktuelle Situation zu beurteilen und daraus Entwicklungen abzuleiten, lohnt es sich, längere Zeiträume zu betrachten. Besonders aktuell, da wir es in jüngster Zeit mit nachgeschalteten Corona-Effekten zu tun haben. Während der Pandemie galten bekanntlich gelockerte Insolvenzregeln, die jetzt nicht mehr greifen.
Wie haben sich die Zahlen also konkret entwickelt? Von Januar bis Oktober 2023 registrierte das Amt 14 751 Unternehmensinsolvenzen. Statistisch auf das gesamte Jahr hochgerechnet sind das 17 701. Und damit 3111 Fälle oder 21 Prozent mehr als 2022 (14 590) und 26 Prozent mehr als 2021 (13 993). Ein klarer Trend, so scheint es.
Doch schaut man tiefer, zeigt sich eine andere Entwicklung. In der Spalte für 2019 stehen 18 849 Insolvenzfälle (gemeint sind immer die Unternehmensinsolvenzen, nicht die Privatinsolvenzen), 2018 waren es 19 302 und 2017 sogar 20 093. Und noch weiter zurück: 2011 summierte sich die Zahl der Insolvenzen auf 30 099, 2010 auf 31 998 und 2009 auf 32 687. Das Allzeithoch seit Beginn der Aufzeichnungen 1953 dokumentieren die Statistiker für das Jahr 2003. Mit 39 320 amtlich registrierten Unternehmensinsolvenzen in Deutschland.
Insolvenzen gehören zum Wirtschaftsleben dazu. So wie Neugründungen. Also alles halb so schlimm im Jahr 2024? Mitnichten. Die Zahl der zahlungsunfähigen Unternehmen steigt nachweislich und immer häufiger sind große, bislang als eher ungefährdet eingestufte Firmen betroffen. Dennoch zeigt der Blick zurück, dass isoliert oder ohne Zusammenhang zitierte Zahlen zu verzerrten oder einseitigen Schlussfolgerungen führen können. Immer öfter steckt sogar Absicht dahinter. Um mit einer reißerischen Schlagzeile Klicks zu generieren, die Situation bewusst zusätzlich zu dramatisieren, die öffentliche Wahrnehmung im eigenen Sinne zu lenken oder extreme Positionen zu rechtfertigen.
Ob Warendorf, Wesco, O+F, Lechner oder andere: Auch in der Küchenbranche haben die Insolvenzverfahren der letzten Wochen für Bestürzung gesorgt. Jedes einzelne davon ist für die Betroffenen mit Leid und Ungewissheit verbunden, selbst wenn ein Insolvenzantrag nicht mehr zwangsläufig mit Bankrott, Konkurs oder Pleite gleichzusetzen ist. Manchmal am Ende aber doch, wie der Fall Lechner zeigt. Nach mehreren Versuchen, das Unternehmen zu stabilisieren, wurde die Produktion Anfang 2024 eingestellt. Nur mit Glasprodukten soll es weitergehen. * (Online-Update: Inzwischen ist klar, dass auch die Glasproduktion nicht fortgeführt wird.)
Natürlich sucht man nach Gründen für den Niedergang. In der offiziellen Mitteilung des Insolvenzverwalters ist von der schwierigen Marktsituation im Jahr 2023 die Rede, von gestiegenen Zinsen und einem Auftragsrückgang von 35 Prozent. Solche Einbrüche bringen jedes Unternehmen ins Wanken. Doch sind sie in diesem Fall Ursache oder Auslöser? Wo liegen die Ausgangspunkte für die Pleite? In den ehrgeizigen Expansionsplänen zum Vollsortimenter für Arbeitsplatten? In der (zu) engen und vielleicht wenig profitablen Beziehung zu einem Großkunden? In der Preispolitik? Lechner verlor über die Jahre Stück für Stück an Widerstandskraft und konnte dem Nachfragerückgang, der bereits im Herbst 2022 einsetzte und sich 2023 massiv fortsetzte, zu wenig entgegensetzen. Ein Schicksal, das das Unternehmen mit vielen anderen teilt. Neben den schwierigen äußeren Bedingungen wirken immer auch die eigenen Entscheidungen der Vergangenheit nach.
Die amtlichen Statistiken mögen beunruhigen und Einzelschicksale wie die genannten scheinen die Situation zu bestätigen. Den Zustand der Branche spiegelt dies aber nicht in Gänze wider. Diese Zeilen sollen gewiss keinen hoffnungsfrohen Zweckoptimismus schüren. Doch wir sollten den Blick fürs Ganze wahren. In den Gesprächen der letzten Wochen waren auch Einschätzungen zu hören, die ohne zusätzliche Schwarzmalerei auskommen. Zum Beispiel diese: „Ja, auch wir haben im letzten Jahr Umsatz verloren, aber wir haben vorher viel gewonnen. Das pendelt sich gerade wieder ein.“
Dirk Biermann
Dieser Text ist als Editorial in der Print-Ausgabe KÜCHENPLANER 1/2 2024 erschienen.